Klassische Stadt-Utopien – gibt es die? (German)

Klassische Stadt-Utopien – gibt es die?

 

Als Herr Le Blanc mich anrief und wegen eines in das Thema der phantastischen Stadt einführenden Vortrages auf seiner diesjährigen Herbst-Tagung anfragte, schlug er mir vor, zu klassischen Stadt-Utopien zu sprechen, um der Tagung das Fundament zu liefern. Dem Angebot der Tagung das Fundament zu liefern, folgte ich gerne. Nur: Mit dem Wunsch nach einem Vortrag über klassische Stadt-Utopien ist es so eine Sache ...

Es ist nämlich schlicht die Frage zu stellen, ob es überhaupt so etwas wie klassische Stadt-Utopien gibt – ausgehend von dem Umstand, dass hier vier zuvor in ihrer Bedeutung zu definierende Begriffe zusammentreffen: Stadt-Utopie, klassisch, Utopie, Stadt. Es herrscht Problematisierungsbedarf.

Von diesem Problematisierungsbedarf ausgehend gliedert sich der vorliegende Beitrag in zwei Abschnitte: in einen ersten theoretischen, der Begriffsproblematisierung gewidmeten; und in einen zweiten, der die Problematik am Beispiel abhandelt, indem er drei Fiktionalisierungsmuster anhand markanter Stadt-Texte veranschaulicht. Die Auswahl der Texte erfolgte in Reaktion auf die Themenstellungen der übrigen Referate um Überschneidungen tunlichst zu vermeiden.

Abschnitt 1: Begriffsproblematisierung

 

Punkt 1: Stadt-Utopie

Ein einziger Blick auf  die Spannbreite der in Architektur, Literatur und Politik verankerten Referatsthemen zu dieser Tagung macht das Problem deutlich: Was meint man mit einer Stadt-Utopie? Eine Utopie von der Stadt? Eine Utopie, angelegt als städtische Lebenswelt? Eine städtische Lebenswelt angelegt als utopisches Konstrukt? Und das jeweils in literarischer Form? Oder meint man jeden literarischen Text, in dem eine fiktionalisierte Stadt vorkommt, wie es das Vorwort im Programmheft zu dieser Tagung für die phantastische Stadt vorzuschlagen scheint? Oder ist das verengte Sicht des Literaturwissenschaftlers?

 

Punkt 2: klassisch

Natürlich gibt es Texte, die man assoziiert, wenn man das Wort Stadt-Utopie hört: das himmlische Jerusalem der »Offenbarung«, Andreaes »Christianopolis«,  Jüngers »Heliopolis«. Zweifelsfrei sind es bekannte Texte. Aber sind sie deshalb klassisch?

Laut Duden bedeutet klassisch soviel wie mustergültig, vorbildlich, die Klassik betreffend, typisch, bezeichnend, herkömmlich oder traditionell. Was aber soll dann an den genannten Texten mustergültig, vorbildlich, typisch, bezeichnend, herkömmlich oder traditionell sein? Die literarische Form? Das vermittelte gedankliche Konzept? Das Erscheinungsbild der Stadt? Die dargestellte Gesellschaft? Und: Auf der Grundlage wovon sollen entsprechende Kriterien festgelegt werden?

Das Ergebnis hängt ab von den Fragen, die man stellt.Um also Kriterien zu definieren, müßte man eine literarische Genre-Diskussion führen ähnlich der um die Form des Dramas. Eine solche Diskussion hat aber nie stattgefunden. Das heißt, man entwickelte keine Richtlinien, nach denen Stadt-Utopien zu verfassen seien. Womit folglich alle Versuche, klassische Stadt-Utopien zu definieren, nachträgliche den Texten aufgesetzte Definitionsversuche sind.

Grundsätzlich sind die Ergebnisse solcher Versuche Funktionen von Reduktion: Man sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dabei geht man von durchaus vorhandenen Ähnlichkeiten der Texte aus und versucht diese nachträglich zu systematisieren. Doch was man so dokumentiert, sind Rezeptionsverläufe der unterschiedlichen Art und nicht notwendigerweise Ergebnisse normativ gelenkter Gestaltungsversuche.

Zweifelsfrei gibt es Rezeptionsverläufe. Doch machen sie eine Stadt-Utopie zur klassischen Stadt-Utopie? Wohl eher nicht. Ich selbst habe zum Beispiel den Versuch unternommen, Aspekte der Vision vom Himmlischen Jerusalem zu isolieren und utopische Stadt-Texte des 20. Jahrhunderts auf das Vorhandensein jener Aspekte zu befragen.1 Die Ergebnisse waren interessant: Sie zeigten die kulturelle Wirksamkeit einer religiös-heilsgeschichtlichen Idee. Gleichzeitig verdeutlichten sie, daß die Rezeption jener Idee in dem, was sie als vordergründige Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen jener Texte mit dem Ursprungs-Text dem späteren Leser hinterlassen, zeitlich und weltanschaulich gelenkt ist. Hier geht es nicht um Nachahmung oder um die Orientierung an Normen. Was als Übereinstimmung wahrgenommen wird, dient als Zitat, als Anspielung der Sicherung des ideellen Bezuges. Um diesen geht es, und nicht um die übernommenen Aspekte an sich.

Im Falle einer als klassisch definierten und rezipierten Stadt-Utopie müßte das Umgekehrte der Fall sein: Die Übereinstimmung der markanten Merkmale wäre der Anspruch an die literarischen Texte. Der Grundsatz wäre die allgemeine Verbindlichkeit der Merkmale.

 

Punkt 3: Utopie

Überhaupt muß man sich fragen: Assoziiert man nicht vorrangig die Utopie mit den genannten Texten – und erst in zweiter Linie den Umstand, daß diese sich in städtischer Form präsentiert?

Und bzgl. der systematisierenden Eingrenzung der Utopie kommt man mit dem Begriff klassisch schon gar nicht weiter. Diese Einsicht verdanken wir einer interdisziplinär geführten Utopie-Diskussion.2

 

Punkt 4: Stadt

Und als ob dies nicht alles schon genug wäre, bleibt schließlich noch der Begriff der Stadt, der dem klassischen nicht weniger im Weg steht. Zwar liefern Konversationslexika Definitionen von Stadt, die aber schon durch die Allgemeinheit der Formulierung auf ihre eigene Relativität hinweisen. Zur Veranschaulichung die der neuesten Auflage des Brockhaus entnommene Definition: »Stadt - Siedlung mit meist nichtlandwirtschaftl. Funktionen (Ausnahme: Ackerbürgerstadt), gekennzeichnet u.a. durch eine gewisse Größe, Geschlossenheit der Ortsform, hohe Bebauungsdichte, zentrale Funktionen in Handel, Kultur und Verwaltung; in größeren Städten führt die Differenzierung des Ortsbildes zur Bildung von S.-Vierteln (z. B. City, Wohnviertel, Ind.gebiete). Die statist. Definition geht nur von einer bestimmten Einwohnerzahl aus, unabhängig vom Stadt-Recht; für internat. Vergleiche scheint eine Mindesteinwohnerzahl von 20 000 sinnvoll zu sein; in Dtl. unterscheidet man Klein- (5 000-20 000 Ew.), Mittel- (20 000-100 000 Ew.) und Großstädte (über 100 000 Ew.)«.3

Liest man die zumeist  daran angefügten Ausführungen zur historischen  Stadt-Entwicklung, so wird einem rasch klar, daß Stadt für jede Zeit und jeden Kulturkreis etwas anderes bedeutet.4

 

Punkt 5: Fazit

Das Stichwort in Hinblick auf die Annäherung an die phantastische Stadt auf der Grundlage der Frage nach klassischen Stadt-Utopien muß demnach Differenzierung heißen: Zweifelsfrei gibt es literarische Texte, die utopische Konzepte vermitteln und diesen die Form von Städten geben. In diesem Zusammenhang aber von Stadt-Utopien zu sprechen, noch dazu von klassischen, würde angesichts der notwendigen Reduktion der Merkmale den Versuch der Systematisierung zu weit treiben.

Weitaus fruchtbarer erscheint es da, geortete Bezüglichkeiten zum Beispiel vor dem historischen Entstehungs-Hintergrund der späteren Texte zu betrachten und sich solcherart Einblicke zu verschaffen in die kulturelle, gesellschaftliche, religiöse und politische Vergangenheit und Gegenwart.

 

 

Abschnitt 2: Fiktionalisierungmuster und Textbeispiele

 

Um dies zu veranschaulichen, greife ich im folgenden drei Wege heraus, die jeweils zu literarisierten Städten führen: 1. die Rezeption von Aspekten eines vorhandenen städtisch-utopischen Textes, 2. die Rezeption eines vorhandenen städtisch-literarischen Motivs oder Themas, 3. die Rezeption von Zeitumständen in der Konzeption der städtischen Gesellschaft.

 

ad 1:

Wie erwähnt habe ich die Rezeption von Aspekten eines vorhandenen städtisch-utopischen Textes am Beispiel der Vision vom himmlischen Jerusalem und utopischen Städten der Literatur des 20. Jhs. untersucht. Die vollständige Liste der untersuchten Texte ist der Bibliographie in »Visionäre Botschaften. Signale utopischer Städte in der Zeit« zu entnehmen.

Zur Erinnerung: In der Offenbarung des Johannes heißt es: »Der Geist nahm von mir Besitz und führte mich auf die Spitze eines sehr hohen Berges. Er zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, die von Gott aus dem Himmel herabgekommen war.«5 Im folgenden zeichnet der Text dann die Stadt in ihren architektonischen und gesellschaftlichen Charakteristika und setzt das Konzept des himmlischen Jerusalem gegen das der Hure Babylon ab.6

Für den Vergleich mit den Utopien des 20. Jahrhunderts erscheint die Isolierung von insgesamt 5 Aspekten der Vision um das himmlische Jerusalem zweckmäßig: 1. der visionäre Charakter des Textes, 2. der vereinzelte Protagonist, 3. die städtische Privilegiertheit (inklusive der Lage der Stadt), 4. die Darstellung der sozialen Charakteristika der städtischen Gemeinschaft, 5. die Verschmelzung von Stadt und Welt.

In der überwiegenden Anzahl der Texte aus dem 20. Jh. finden sich die isolierten Aspekte wieder. Das ist noch nicht der wirklich interessante Punkt. Bis hierher beweist der Umstand lediglich die kulturelle Wirksamkeit der christlichen Idee. Aufschlußreich dagegen ist die Akzentuierung und die Einbindung der Aspekte in den entsprechenden Kontext, also auch all das, das abweicht.

Wählen wir aus den untersuchten Texten Curt Hohoffs »Verbotene Stadt«7 aus dem Jahr 1958 (neu: 1989), also aus der Zeit der gesellschaftlichen und politischen Orientierung in Deutschland nach Ende des 2. Weltkrieges. Für all jene, die den Text nicht kennen: Bei dem Text handelt es sich um eine fiktive Reisebeschreibung. Die Verbotene Stadt liegt weit im Osten von Wüste umgeben. Man versteht sich als Republik und unterhält ein weitreichendes Überwachungs- und Informationssystem. Die Stadt ist mit Mauern eingefaßt, die sie zusammen mit einer unbebauten Fläche gegen die moderne Großstadt Jenking abgrenzen. Von Bewohnern und Präsidenten der verbotenen Stadt dürfen keine Portraits angefertigt werden. Die Wappentiere der Stadt sind Einhorn, Adler, Löwe und Lamm. Die herrschende Kultur trägt konservatorisch-museale Züge. Als gesellschaftliches Prinzip gilt zölibatere Spiritualität, die nur Adoption zuläßt und sich im übrigen an biblischen Sätzen orientiert. Das Ideal besteht im weltweiten Frieden. In Jenking ist das anders. Hier treibt man Handel, Geschäfte und Prostitution.

In dieVerbotene Stadt reisen nun aufgrund einer väterlichen Erzählung zwei Abenteurer, ein Katholik und ein Protestant, ohne zunächst die Chance zu bekommen, in die Stadt vorzudringen. Ihnen ist für lange Zeit einzig der Aufenthalt in der Großstadt Jenking erlaubt. Es gelingt ihnen nur Schritt für Schritt sich der Stadt zu nähern, zunächst geistig und dann physisch im Zuge eines Tartaren-Angriffes. Sie erleben zahlreiche Enttäuschungen immer dann, wenn ein ihrer Ansicht nach Unwürdiger in die Stadt eingelassen wird, sei es nun ein Militär oder eine in einem Bordell lebende Frau. Angesichts dessen verstehen sie sich schließlich als Pilger, die sich nur stufenweise ihrem Ziel nähern können.

Die Zitate und Anspielungen sind offensichtlich. Sie werden vorzüglich geleistet durch die Übereinstimmungen der Aspekte 3-5. Neu sind dagegen folgende Elemente: 1. der Text ist eher problematisierend-einsichtig als visionär. 2. Der Protagonist ist wohl vereinzelt, aber gleichzeitig verdoppelt. Die Exponenten fungieren als intellektuelle Gegenpole in Bezug auf die Wesensart der verbotenen Stadt. 3. Die zentralen Inhalte des religiösen Konzeptes, auf das die Gestaltung der verbotenen Stadt Bezug nimmt, werden explizit vor dem Hintergrund von Erfahrungen diskutiert. 4. Es werden ironisierende Seitenhiebe auf den zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb geführt.

Was somit in Summe herauskommt, ist die Fiktionalisierung einer religiösen Selbstfindung, die christliche Glaubensinhalte bestätigt und so gesellschaftliche Strukturen stützt. 

 

ad 2:

Nun erfolgt Rezeption aber nicht nur auf der Basis einzelner Aspekte, sie kann auch thematisch bzw. motivisch stattfinden. Ein anschauliches Beispiel hierfür stellt die Rezeption der »Messingstadt«8, einer Erzählung aus »Tausendundeiner Nacht«, in Friedrich Wilhelm Maders »Die Messingstadt«9 vom Beginn des 20. Jhs. und in Christoph Meckels Roman gleichen Titels10 vom Ende des 20. Jhs. dar. Worum geht es in der Original-Erzählung? Was war die Messingstadt dort? Einst, so will es die arabische Dichtung, erzählte Schehrezade ihrem Gemahl, dem rachsüchtigen König von Samarkand, während dreizehn aufeinanderfolgender Nächte die »Geschichte von der Messingstadt«- jener sagenumwobenen Stadt im »Westlande« von ´Abd el-Malik ibn Marwans Reich, an dessen Stränden immer wieder Messingflaschen mit dem Siegel des weisen Königs Salomo angespült wurden. Stadt und Meeresbucht aufzuspüren, sandte der Kalif von Damaskus Emir Musa aus. Doch dieser fand keine blühende Stadt inmitten einer üppigen Oase; er öffnete die monumentalen Tore zu einer Toten-Stadt. Mumifiziert lagen, saßen und standen die einstigen Bewohner dort an ihren verödeten Wirkungsstätten, umgeben von unschätzbaren Reichtümern. Sie waren während einer mehrjährigen Dürre verhungert. Selbst ihre Schätze hatten ihnen nichts mehr erkaufen können. Zur Mahnung hinterließen sie der Nachwelt in zahlreichen Versen die schriftliche Botschaft von der seligmachenden Bedürfnislosigkeit im Glauben. Das Schicksal der Stadt dient so exempelhaft der Verherrlichung des Islam.

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nun läßt Friedrich Wilhelm Mader in seiner Erzählung »Die Messingstadt« die Original-Erzählung zur Folie europäisch-deutschen Überlegenheits-Habitus und zur Folie kulturellen Hegemonie-Denkens werden. Wie ging er dabei vor? Er rollt die Suche nach der Messingstadt neu auf. Hussein Pascha, ein Deutscher im Dienste des ägyptischen Khediven, wird von diesem auf die gleiche Reise ausgesandt wie der Emir des arabischen Märchens. Er rüstet rund um eine abenteuerlustige Gruppe von Deutschen eine Expedition aus. Zum Führer wählt er einen habgierigen indischen Fakir, der im Besitz einer ererbten Landkarte ist: Sie zeigt den Weg durch die Sahara nach der sagenhaften Messingstadt und sämtliche geheimen Wasserstellen entlang jener gefahrvollen Reiseroute. Hussein Pascha selbst führt neben diversen technischen Hilfsmitteln die »Märchen aus tausend und einer Nacht« mit. Aus ihnen bezieht er seine Informationen. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die der Reisegesellschaft von Hussein Pascha am abendlichen Lagerfeuer vorgetragene »Geschichte von der Messingstadt« zum Medium kultureller Profilierung der einzelnen deutschen Landschaften, der sozialen Schichtungen innerhalb der regionalen Gruppen, und schließlich der ideellen Abgrenzung des Okzident gegen den Orient: Von peinlicher Halb-Bildung geprägt zeigen sich die Diener und Zofen ebenso wie deren realitäts-ferne adelige Herrschaften und die Frauen der Gruppe; einzig den Historiker Rommel und Hussein Pascha, der in Wirklichkeit Münchhausen heißt und den Rang eines Kapitäns innehat, umgibt der Text mit einer Aura soliden Wissens. Der indische Fakir und die arabische Schutztruppe dagegen versinnlichen europäisch-deutsches  Stereotyp von orientalischer Verschlagenheit; sie stützen damit indirekt das Bild des redlichen Deutschen. Jenen tiefgläubigen Emir Musa, der angesichts der in religiösen Sprüchen überlieferten Weisheit der Messingstadt - vor Ergriffenheit und religiöser Verzückung zu Tränen gerührt - in Ohnmacht fällt, diffamieren eine der weiblichen Expeditions-Teilnehmerinnen und der derb-bodenständige bayerische Diener als »Waschlappen«und als »Weiberl«;11 sein Verhalten entspricht nicht dem männlichen Rollen-Bild deutscher Gegenwart. Und letztlich wertet man gar den Umstand, daß die Tore der Messingstadt - anders als es das Märchen berichtet - von der Karawane nicht fest verschlossen sondern durchaus unverschlossen vorgefunden werden, als Beweis orientalischer Nachlässigkeit. In Summe hat Mader seine Quelle also auf ihren objektivierbaren Gehalt reduziert, sie so ihres spirituell-philosophischen Erkenntnis-Potentials beraubt und dieses durch ideelle Inhalte ersetzt, die seiner Zeit als opportun galten.

Christoph Meckels 1991 erschienener Roman von der »Messingstadt« dagegen bindet die Messingstadt in die Problematik von Schein und Sein ein. Das Leben in Meckels Stadt erscheint dem Leser zunächst als schillernde Kollage der städtischen Klischees der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Ihre Facetten kulminieren zu jener Stimmung, die Otto Dix 1927-28 in seinem Triptychon »Großstadt« so pointiert einfing. Prostitution, Glücksspiel, Alkohol im Übermaß, Gewalt, Verbrechen und Anonymität bilden das Milieu, in dem Leben ohne Bindung in einer Halbwelt am Rand der Legalität abläuft. Darin besteht die erste Ebene des Textes; sie trägt die Handlung und erzählt so von Jean (oder richtiger: Benjamin), der auf undurchsichtige Weise sein Geld verdient, der in Hotels und ständig wechselnden Wohnungen lebt, zahllose Frauen gewinnt und verliert und der schließlich in einem Experiment für drei Monate die Prostituierte Saba (oder richtiger: Gabriella) zu sich nimmt, sich in sie verliebt (wie sie sich in ihn) und den es immer wieder in die Stadt zurückzieht. Der Erlebnis-Raum weist enge Grenzen auf. Man erlebt Stadt in Ausnahmesituationen, sei es im exzessiven Nachtleben oder in einem exstatischen Karneval. Im letzten Kapitel transponiert der Autor diesen Zug des Textes ins Existentielle: Die Katastrophe kommt in Form von Strahlung. Die Stadt verkommt zur Geisterstadt, und erstmals liegt sie nicht mehr in Dunkelheit sondern in gleißendem Licht. Von den Bewohnern bleiben nur jene zurück, die sich bis dahin nur nachts (oder gar nicht) in der Stadt gezeigt hatten. Meckels Stadt heißt »BC«, »Babylon City«, sie ist multi-kulturelle »Metropole«. Sie symbolisiert Verruchtheit, moralische Grenz-Existenz. Wie die Messingstadt aus »Tausend und einer Nacht« ist Babylon City Exempel. Sie verkörpert ein gedankliches Konstrukt, indem Meckel die erdachte Stadt zum Stadt-Typus überhöht. Man spricht über ein Phänomen.

So ebnet der Autor den Weg für die zweite, tiefere, Ebene des Romans. Auf ihr liegt die Messingstadt; eine Stadt in der Stadt sozusagen. Zur arabischen Erzählung besteht eine abstrahiert-ideelle Verbindung, aufrechterhalten durch Situation und assoziativ wirkende Namen: Saba, Jerusalem, (in logischem Schluß durch den Leser) Salomo, die verödete Stadt Babylon City, in der nicht einmal mehr der zurückgebliebene Besitz geplündert wird, die tausendundsieben Nächte nach der Katastrophe und die wiederholte Erwähnung der Messingstadt - in der Titel-Illustration der Taschenbuch-Ausgabe von 1993 unterstrichen durch die Verwendung einer Radierung von Meckels Hand, die der Beschreibung der Wächter mit ihren Lanzen und Schilden nachempfunden scheint. Sie bewachen das Haupttor zur Messingstadt, von der es in Meckels Text in der imperativen Sprache der märchenhaften Erzählung heißt: »Steig ab und geh zwischen den beiden Bergen dort weiter, bis du die Messingstadt erblickst; dann mach vor ihr halt und geh nicht hinein.«12 Die Warnung eröffnet als Motto jenen Abschnitt des Romans, der Jeans Beziehung zu Frauen, zu seiner Umwelt und nicht zuletzt zu sich selbst reflektiert. In einem sich ständig verdichtenden, komplexen Geflecht aus Symbolik und Metaphorik wird das Wesen der Messingstadt als Sinnbild für Jeans Welt erkennbar. Hinter dem (goldenen) Schein verbirgt sich ein konträres Sein. Jeans Dasein präsentiert sich als glänzende Hülle ohne Inhalt. Aber wer als Frau von der verlockenden Fassade verführt, sich in diesen Raum wagt, stürzt in der Tiefe zu Tode - gleich den glücklosen Kundschaftern der »Messingstadt«; sie muss (emotional) verhungern wie deren Bewohner.

Bliebe man jedoch an diesem Punkt stehen, hätte man die im Text verschlüsselte Gegenläufigkeit des Problems übersehen. Babylon City kommt wieder ins Spiel und mit ihr all jene Erscheinungen, die man als Realität wahrzunehmen glaubt - bis das Unvorhergesehene in sie eingreift und sie als Täuschungen entlarvt. Denn in letzter Konsequenz, in der Katastrophe, bewährt sich das Leben der (vermeintlichen) Scheinhaftigkeit als das einzig Bleibende. Die beiden Ebenen des Romans schließen sich zu einem Kreis. Die Wirklichkeit von BC und der Schein der Messingstadt haben in ihrer Verschränkung die eigenen Kategorien aufgehoben und  spiegeln Diskussion über Erkenntnis ebenso wie Fragestellung zu sozialer Existenz.

 

ad 3:

Während in den bisher dargestellten Fällen die Akzentuierung der Rezeption von Elementen, Motiven und Themen einen Reflex der Zeitumstände bildet, gibt es in den Texten durchaus Aspekte, die ohne den Umweg über die Rezeption den Reflex der Zeitumstände bilden. Kasacks »Stadt hinter dem Strom«13 etwa präsentiert sich dem dorthin als Archivar abgeordneten Protagonisten als Ruinenstadt und in einem späten Moment der Erkenntnis als Totenstadt, aus der er schließlich als Bote in die Welt der Lebenden zurückgesandt wird. Der Text knüpft so  in den Umständen, unter denen die Menschen dort leben, an die Lebensrealität der unmittelbaren Nachkriegszeit an: Man lebt in notdürftig bewohnbar gemachten Häusern, behilft sich mit dem Notwendigsten, muß sich mit dem Tod Nahestehender auseinandersetzen, sucht nach Orientierungspunkten. Für die in den religiösen Umbruchzeiten des 16. Jahrhunderts entstandenen städtisch angelegten Utopien, etwa für Campanellas »Civitas Solis«14 oder Andreaes »Christianopolis«15 – beides lateinische Texte, der eine aus Italien, der andere aus Deutschland - , gilt Vergleichbares: Jene religiös motivierten Utopien treffen sich in ihrer Logik mit den religiösen Konzepten, die der Politik der Zeit ihre Konturen verliehen. Was man in den städtisch angelegten religiösen Staats-Utopien gegenüber der historischen Gegenwart verändert hatte, waren lediglich die Vorzeichen der Macht-Ausübung, nicht aber deren Denk-Strukturen: Man betrachtet sich in den utopischen Gesellschaften als die jeweils letzten Zufluchtsstätten wahrer Religiosität. Man erhebt jenen alleinigen Wahrheits-Anspruch, der jener Intoleranz zugrunde liegt, die man an der historischen Realität als kontraproduktiv für gesellschaftliche wie politische Belange erachtet und die man deshalb im Kontext der utopischen Konstrukte zu eliminieren meinte. So liegt Campanellas Sonnenstadt auf der einsamen Insel Trapobane im Indischen Ozean. Sie ist in Form von sieben konzentrischen Kreisen erbaut, deren jeder den Namen eines der damals bekannten Planeten trägt. Im Zentrum der Kreise, also in der Stadtmitte, liegt ein runder Tempel, dessen Altar vertikal von den Strahlen der Sonne beleuchtet wird. Es handelt sich um den Tempel des Sonnenpriesters Metafisico, der als religiöses wie politisches Oberhaupt die Stadt regiert. Ihn unterstützen drei Minister: Macht (Pon), Weisheit (Sin) und Liebe (Mor). Die Vertreter der Wissenschaften - in der Rangordnung: Astrologen, Kosmographen, Geometer, Logiker, Rhetoriker, Grammatiker, Ärzte, Physiker, Politiker und Moralisten - sind Beamte. Auf Meuterei gegen den Staat oder die Religion steht in der Sonnenstadt die Todesstrafe. Der Angeklagte hat aber das Recht, Staatsbeamte und Theologen öffentlich zu beschuldigen, wenn er sich zu Unrecht angeklagt fühlt. Das Gemeinwesen versteht sich als ideale Gesellschaft, in der insbesondere die menschliche Fortpflanzung nach strengen Zucht-Regeln gesteuert wird; sie trägt zeremoniellen Charakter. Den Gottesdienst verrichtet man viermal am Tag, dem jeweiligen Stand der Sonne folgend, gegen die entsprechende Himmelsrichtung gewandt.

Andreaes Text beruft sich auf den universellen Gedanken des Christ-Seins - auch wenn dann letztlich dieses Christ-Sein unter weitestgehender Akzeptanz protestantischer Ansatzpunkte erfolgt. Der Name seiner Stadt ist bereits Programm. Sie ist ein von Mauern umgebener Ort der Gottesfurcht, der Gelehrsamkeit und der Weisheit und liegt auf der dreieckigen Insel Capharsalama, dem Dorf des Friedens.

Trotz der gemeinsamen religiösen Ausrichtung erkennt man den konzeptionellen Unterschied zwischen den ausgewählten Texten. Für die aktuelle Kultur Italiens nämlich waren die durch jene Konfessionalisierungen genährten politischen Konflikte ebenso irrelevant wie der Protestantismus als Konzept. Am Beispiel Campanellas manifestierte sich die intellektuelle Distanz gegen Vereinnahmung in einem naturwissenschaftlich genährten Freidenkertum: Campanellas Entwurf der Sonnenstadt kann nämlich - unter anderem - verstanden werden als eine Ver-Sinnlichung des von der Kirche im sechzehnten Jahrhundert vehement bekämpften heliozentrischen Weltbildes, das einen Galileo Galilei zunächst vor ein Inquisitions-Gericht und dann, nach der unter Androhung der Folter erzwungenen Abschwörung seiner Theorien, unter kirchliche Kuratel brachte. Als Campanella seine Schrift verfaßte, war er selbst in den Kerker verbannt: In seiner Jugend hatte ihm sein religiöser Fanatismus bereits eine Verurteilung wegen Ketzerei eingebracht, und als er später einflußreiche staats-reformatorische Schriften verfaßte, geriet er in Konflikt mit der staatlichen Herrschaft.

In Campanellas Italien konnte sich utopisches Denken zwischen zwei Polen entfalten: Kirche und Wissenschaft gaben die Positionen vor, die es zu stabilisieren oder aber zu relativieren galt. Im Vergleich dazu präsentierten sich im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum die Bedingungen signifikant anders. Position und Lehre der Kirche waren angefochten durch die Kritik Luthers. Den deutschen Pastor Andreae beschäftigten vor diesem Hintergrund andere existentielle Probleme als den italienischen Dominikaner Campanella. Dessen utopischer Stadt-Staat praktiziert - und propagiert - die personale wie ideelle Einheit von Politik und Religion. Für die deutschen und britischen Protestanten war dies politische Realität: In beiden Territorien bestimmte der weltliche Herrscher die Religion - und das aus reiner Willkür. Wollte man in jenen nördlichen Utopien also den politischen Faktor der Gesellschaftskritik integrieren, so hatte man entweder die Möglichkeit für eine Trennung zwischen Staat und Kirche zu plädieren, oder aber, die Deckungsgleichheit in einer von der kritisierten Realität abweichenden Form zu gestalten.

 

Was sich letztlich also über utopische Städte sagen läßt, ist, daß sie sich zum Teil aufeinander beziehen und in dieser Bezüglichkeit stets Zeit-Kommentare verkörpern.

In diesem Sinne wünsche ich der Tagung viele anregende Einsichten.

 

 

Anmerkungen

1 Veronika Bernard: Visionäre Botschaften. Signale utopischer Städte in der Zeit. Wetzlar 1997.

2 Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1982.

3 Brockhaus

4 Vgl. Brockhaus

5 Offenbarung des Johannes, Kap. 21, Vers 10. Zitiert nach der Bibelausgabe: Die gute Nachricht. Das neue Testament in heutigem Deutsch. Hrsg. von den Bibelgesellschaften und Bibelwerken im deutsch-sprachigen Raum. Stuttgart 1975.

6 Ebda, Vers 10ff.

7 Curt Hohoff: Die verbotene Stadt. München 1958 (neu: Fft. 1989).

8 Die Geschichte von der Messingstadt. In: Die Erzählungen aus tausendundein Nächten. Zum ersten Mal nach dem arabischen Urtest der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahr 1839 übertragen von Enno Littmann. Ausg. in 6 Bdn. Bd. 4. Wiesbaden 1926. Nachaufl. 1954, S. 208-259.

9 Friedrich Wilhelm Mader: Die Messingstadt. Stuttgart, Bln., Leipzig 4. Aufl. o. J.

10 Christoph Meckel: Die Messingstadt. Ffm.1991 (TB: 1993).

11 Mader: S. 271.

12 Meckel: S. 58.

13 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom. München, Zürich 1964 (zuerst: 1947).

14 Tommaso Campanella: Civitas Solis idea republicae philosophicae. Ffm.. 1623.

15 J. V. Andreae: Christianopolis. Hrsg. v. Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1975.

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