BABYLONS ERBE. Teil 2 (German)
III.
»Einer der sieben Engel, die die sieben Schalen trugen, kam zu mir und sagte: >Tritt her! Ich werde dir zeigen, wie die große Hure, die Stadt, die an vielen Wasserarmen erbaut ist, bestraft wird. Die Könige der Erde haben sich mit ihr eingelassen.<«
Offenbarung des Johannes, Kap. 17, V. 1-2.
Wenn nun aber die Jungfräulichkeit einer Stadt in den zur Betrachtung herangezogenen Werbe-, Droh- und Klageliedern Rechtgläubigkeit und Loyalität zum Herrscher verkörpert haben soll, kann sie konsequenter Weise nur eine Facette jener religiös verwurzelten Verweiblichungstendenz vorstellen, von der bislang die Rede war. Denn es gab schließlich auch 'abtrünnige' und sich widersetzende Städte, und das nicht erst zur Zeit der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges. Folgen wir unserem Schema in der eingeschlagenen Richtung weiter, so wären diese den Verführungen der Welt des Satans bzw. der Welt Babylons erlegen - und das unabhängig davon, ob wir in protestantischen oder katholischen Kategorien denken. Es muß daher die Frage gestellt werden, wie solche Städte in der jeweils zeitgenössischen Dichtung erscheinen. Sollte man sie gleichfalls als Jungfrauen allegorisiert haben, müßte man die bislang dargelegte These nämlich als widerlegt betrachten. Hätte man sie dagegen etwa als Hure apostrophiert - in Analogie zur »großen Hure Babylon« der Johannes-Offenbarung -, würde der Ansatz dadurch gestützt. Zwei kontroversielle Bilder ergänzten sich dann nämlich in ihrer Aussage, indem ihre Funktionen einander ausschlössen - immer unter der Voraussetzung allerdings, man befände sich innerhalb desselben Systems. Träfen hingegen zwei gegensätzliche Systeme auf einander, wäre die Jungfräulichkeitsallegorie der Stadt zunächst als Funktion des jeweiligen Blickwinkels zu betrachten: Jungfrau dürfte die Stadt jeweils nur für den sein, der sich auf der Seite der Rechtlichkeit sieht und der sich eben daraus den Besitz der Stadt, sprich, ihre Kapitulation, ihre Konversion oder aber ihre bereits bestehende Zugehörigkeit zur eigenen Einflußsphäre erklärt - so, wie es oben gezeigt werden konnte, wenn auch beschränkt auf den säkularisierten Fortbestand des Bildes. Oder mit anderen Worten: Was sich dem einen als Treue darstellt, gilt seinem Kontrahenten als Abtrünnigkeit. Erst dann könnte man sich dem Eigentlichen zuwenden: dem Gedankengut, das über das Bild transportiert wird. Das heißt zum Einen, daß der übergreifende Vergleich von protestantischer und katholischer Dichtung keine gültigen Ergebnisse bringen kann, sondern abermals nur der gesonderte. Zum anderen, könnte man sich bei konsequenter Verfolgung des Ansatzes den Fall vorstellen, daß ein und dieselbe Stadt Jungfrau und Hure zugleich verkörpert - je nach dem, ob der Dichter in einer konfessionell sensibilisierten Zeit protestantisch oder katholisch bekennt. Dies würde in weiterer Folge ganz spezifische Auswirkungen auf eine mögliche Funktionalisierung des Bildes zeitigen. Denn Jungfrau innerhalb der Selbstdarstellung des Systems ist nicht notwendiger Weise ident mit Jungfrau der Fremd-Betrachtung des Systems. Man könnte auf dieser Grundlage etwa religiöse Polemik bis zur Blasphemie zuspitzen: Man sagt Jungfrau und meint Hure. Damit allerdings müßte sich für die 'abtrünnige' Stadt ein wesentlich facettenreicheres Bildspektrum ergeben, als es für die 'treue' Stadt der Fall ist. Und tatsächlich findet man die zunächst rein theoretischen Überlegungen in den Texten entsprechend belegt - zwar nicht in großer Häufigkeit, aber doch prinzipiell.
Einen ersten Hinweis in die diskutierte Richtung gibt die freündliche warnung an die Venediger, die an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert als letzte Seite der Venediger Chronica gedruckt wurde. H. Fischer verweist auf den Text in einem Beitrag zur Zeitschrift »Germania« aus dem Jahr 1878.89 Es handelt sich um ein gegen Venedig gerichtetes »Pamphlet«, das sich zum fiktiven Ziel setzt, den Venezianern die »vrsache des schadliche Kryegs, do mit sye bitzhar vo Romischer Key. Maiestat so schwarlich gestrafft seind«, zu erläutern. Die Schlußstellung des Gedichtes läßt darauf schließen, daß es eine Art Zusammenfassung der begangenen Vergehen in kurz faßlich-pointierter Form darstellen soll - quasi die Moral von der Geschicht. Was hatte sich die Stadt aber zu Schulden kommen lassen, daß es eine Belagerung durch Kaiser Maximilian rechtfertigte? Antwort darauf geben uns die beiden mittleren Verse des Gedichtes: »Bapst, Keyser darzu achtest klein,/ In eygnem gwalt vertrost allein«. Man setzte also auf Unabhängigkeit und Selbstverwaltung in der selbstbewußten Lagunenstadt. In der Gesamtanlage der Argumentation erscheint dieser eigentliche Grund allerdings durch den Zusatz »darzu« insofern abgeschwächt, als er nur den letzten Ausschlag gab: Die Summe der übrigen Vergehen wiegt viel schwerer, sagt uns der Dichter damit. »Venedig, sych dich eben für«, warnt er deshalb gleich zu Beginn und fährt fort: »Dein hochmut würt gestilt, glaub mir/ Dein geyt, vn üppig eytel eer/ Mag nit vertragen bliben meer,/ Auch ander dein vnredlich that,/ Wiewol die bitzhar gduldet hat/ Der gyetig Gott nun lange zyt,/ Danocht kein besßrug bey dir lyt«. Hochmut, Eitelkeit, Üppigkeit, Unbelehrbarkeit, überdies mangelnde Reue und fehlende Demut gegen die Instanzen göttlicher Herrschaft auf Erden, das ruft nach »gerechter« Strafe: »Venedig, sych dich eben für./ Dan dir die straff ligt vor der thür,/ Durch Keyser Maximilian./ Dein Chronick würt dz schribe an,/ Vnd spreche mancher. Wer hat das/ Vermeint: etwan venedig was/ Besitzen land, leüt, wassers flut,/ Nun ligt es nider vnbehut,/ Ein fischer hüttlin ellendklich./ venedig, des versych du dich«.90 Das ist aktualisierte Fassung der Vision von der großen Hure Babylon und deren von Gott herbeigeführtem Untergang. Die rein politisch motivierte Aktion erhält so einen religiös-moralischen Rahmen; Willkühr mutiert zum göttlichen Willen. Tatsächlich greift die Dichtung der frühen Neuzeit also auf besagte Bibelstelle zurück. Daß dies im Kontext des oben postulierten Bedeutungssystems geschieht, macht die dem Gedicht angeschlossene Widmung deutlich. »Darumb zu beschlusßs dißes Büchlins - wil ich dißen Reymen der muter Gottes, vnd frawen Margarethen von Flanderen zu eeren geschriben haben. ... Zu hjinlegung vil kryegs vnd guerden,/ Ein. M. in hymeln, vnd eins vff erden«. Man legt der jungfräulichen Mutter Gottes sozusagen Rechenschaft darüber ab, daß man als guter Christ die Widersacher der einzig seligmachenden Botschaft ihres Sohnes wirkungsvoll bekämpft - und dazu zählten nach damaligem Weltverständnis eben auch Länder, Städte oder Bürger, die sich kaiserlichem Willen widersetzten. Fränkels Sicht, Venedig erscheine »unter dem bilde einer spröden kokette[n]«,91 bleibt da zu sehr an der Oberfläche und zu sehr den literarischen Kategorien der eigenen Zeit verhaftet. Sie übersieht den Zeichencharakter des Bildes innerhalb des konkreten Bezugrahmens zugunsten einer Bewertung als lyrischem Versatz-Stück, mit dem man die Individualität der Stadt beschreibt.
Unter diesem Gesichtspunkt bleibt weiter zu fragen, ob es sich bei der warnung an die venediger um einen vereinzelten Text dieser Art handelt oder ob er in einer erkennbaren motivischen Entwicklung verankert ist - und wenn ja, in welcher Weise. Unterlag beispielsweise die dem Publikum vermittelte Aussage ähnlichen Veränderungen, wie dies bei der städtischen Jungfräulichkeit der Fall ist? Im Überblick läßt sich dazu vorwegnehmend sagen, daß hier ein Säkularisierungsprozeß nicht mit jener Rigorosität Platz gegriffen hat, wie er den spirituell-religiösen Aspekt der städtischen Jungfrau völlig im Politischen auf- bzw. untergehen ließ. Beschränken wir uns nämlich zunächst auf den Bereich unserer polemisch-kriegerischen Dichtungen, so begegnet man in ihnen dem religiösen Kern des Babylonbezuges auch noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in einer moralischen Diskreditierung des Gegners. Denn Moral hat im weitesten Sinne ja doch immer noch mit Religion zu tun. Zwar möchte man angesichts der in Frage stehenden Texte eher »moralisierend« sagen; schließlich ließe sich der artikulierte Standpunkt leicht auf den verkürzten Nenner bringen: Wer religiös ist, lebt enthaltsam-sittenstreng und glanzlos; wer das Leben zu sehr liebt, kann nicht im christlichen Sinn religiös und folglich nicht moralisch integer sein. Darauf baute beispielsweise die preußische Verhöhnung Frankreichs von 1870-71 letztlich auf. Zur Veranschaulichung seien nur an Wilhelm Jensens Verse auf die bevorstehende Belagerung der Stadt Paris erinnert: »Die falschen Götter klage dann, zu denen du vergebens ruf'st,/ Den nichtigen Schein dann klage du an, den statt der Wirklichkeit du schuf'st,/ Die Lüge, die am Busen du genährt, der du Halleluja/ An tausend von Altären sangst - sie klage an Lutetia!// Und klage an den hohlen Prunk, den deiner Eitelkeit du dankst,/ Und klage an der Wollust Trunk, den du zur tiefsten Hefe trankst,/ Die Feilheit, die dein Mark entnervt, die sich zum Götzenbild ersah/ Die Trinität: Gold, Macht und Rang - sie klage an, Lutetia!«92 Nun hatte Paris und dessen Lebenskultur auf das gesamte neunzehnte Jahrhundert eine nahezu magische Anziehungskraft ausgeübt. Es war der Treffpunkt der europäischen Intellektuellen ebenso wie der mythisierte Ort der Lebensfreude gewesen, die mancher etwa im preußisch-puritanischen Deutschland vermißte. Deutschlands demokratisch-kritisch gesinnte Schriftsteller der Zeit um 1848 lebten dort. Man denke nur an Ludwig Börne und Heinrich Heine. Letzterer verkehrte gar in den Kreisen der Saint-Simonisten, deren sozialistische Ideen sich mit religiösen Ambitionen verbanden; im besonderen richtete man sich gegen die vom Christentum gebotene Unterwerfung des Fleisches durch den Geist. Zwar unterlagen Börnes Briefe aus Paris genauso der Zensur wie Heines Texte; von 1835 an hatte Heine de facto Publikationsverbot. Dennoch prägten die Werke beider Autoren das deutsche Frankreichbild mit, schon allein dadurch, daß man sie in einer politisch unruhigen Zeit als staats-feindlich brandmarkte - und damit natürlich auch den Staat und die Stadt, die ihren Autoren Unterschlupf gewährte. Zum Ruf der Leichtlebigkeit gesellte sich so der des Verrats. Manch 'biederer' Bürger mochte da wohl fürchten, solch latenter 'Sittenverfall' könnte ansteckend wirken. Und wie zur Bestätigung griff die französische Revolution von 1848 unmittelbar auf Deutschland über. Bismarcks aggressive Politik ab 1862 schürte solche Ressentiments schließlich noch: Nicht umsonst nennt sich die 1870-1871 entstandene Sammlung, der Jensens Gedicht entnommen ist, Lieder zu Schutz und Trutz. Wie aber könnte ein propagiertes Feindbild besser aufrecht erhalten werden als über ein gezielt angeheiztes religiös-moralisches Unschuldsempfinden? Darin unterscheidet sich der Text des neunzehnten Jahrhunderts in nichts von jenem des beginnenden sechzehnten. Beide bedienen sich eines konkreten christlichen Glaubensinhaltes, um dem Volk Machtkämpfe plausibel zu machen - mit dem einen, aber entscheidenden Unterschied jedoch, daß in der frühen Neuzeit die Übereinstimmung von staatlicher und kirchlicher Sphäre in gewisser Weise wirklich noch bestand, während sich die Propagandamaschinerie des Deutschen Bundes ihrer lediglich verbrämend bemächtigte.
Nicht ein Wandel in Aussage oder Motivation prägt somit die jeweils zeitspezifische Funktionalisierung des Bildes von der »feindlichen« Stadt in Hurengestalt sondern das Ausmaß der Diskrepanz der darin - zunehmend suggestiv - verquickten Bereiche. Trotzdem muß man sich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts einer lebendigen Kenntnis der biblischen Referenzstelle beim intendierten Publikum sicher gewesen sein. Schließlich können Texte wie der oben zitierte immer nur im sozialen Gesamtkontext gesehen werden, der sie hervorgebracht hat. Und die beste Propaganda wird wertlos, wenn sie niemand versteht - besonders im vorliegenden Fall einer indirekten Selbstdarstellung der eigenen Nation. Tatsächlich hatte sich nun das neunzehnte Jahrhundert - in einer Gegenströmung zum achtzehnten - wieder spirituell-religiösen Werten zugewandt. Die Konfessionen gingen abermals daran, ihr Profil zu bestimmen; man hatte in Folge dessen nicht nur seine Glaubensinhalte parat, sondern war auch auf die Herstellung religiös motivierter Zusammenhänge sensibilisiert. Daß man auf dieser Grundlage den Versuch der nationalen Selbstdarstellung über den Umweg des Negativen unternimmt, verbindet - rein formal betrachtet - den Text des neunzehnten Jahrhunderts einmal mehr mit jenem des sechzehnten. Beide leben von der impliziten Dichotomie, die das biblische Bild vorzeichnet: Hat man nämlich die lasterhaft-gotteslästerliche Hure rhetorisch bereits dem Kontrahenten zugewiesen, bleibt für einen selbst nur mehr die jungfräulich-unschuldige Braut - und damit die Rechtfertigung, die Hure und alle, die ihr hörig sind, zu vernichten: eben jene »Könige der Welt, [die] sich mit ihr eingelassen« haben. Das muß man mit-denken. Nur so wird verständlich, wieso Emanuel Geibel in einem Gedicht seiner Heroldsrufe Deutschland auffordert, sich als Braut zu schmücken, und in einem anderen den Gegner unter dem Titel Ein Psalm wider Babel diffamiert93: Man konstruierte auf dem biblischen Hintergrund eine Gedankenwelt der Gegensatzpaare, die auf eine agitatorisch besetzte Polarität zwischen Böse und Gut abzielt. Die postulierte Analogie läuft dabei jedoch lediglich über einen der beiden Pole. Anders dagegen etwa in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der daran anschließenden Konflikte. Hier setzt man auf explizite Deutlichkeit im Sinne einer kontrastiven Nennung beider Exponenten. Das bringt uns zu der Annahme zurück, es könne vielleicht sogar unterschiedliche Bilder gegeben haben, die auf der biblischen Quelle beruhten - so wie Jungfrau und Braut parallel zueinander auftreten und sich in ihrem Gehalt überlagern. Kehren wir dazu nochmals für einen Augenblick zu dem Gespräch zwischen Tilly und Magdeburg aus dem Jahr 1632 zurück und zu der darin artikulierten fiktiv-katholischen Haltung des ligistischen Feldherren. Die »Metze« und die »Hure« werden hier zum protestantischen Signal jener Blasphemie, die man Katholiken unterstellt: Tilly spricht Magdeburg je nach dem Grad des geleisteten Widerstandes unterschiedslos mit »tugendsame, hochgeehrte Jungfrau«, »du Metze«, »tolle Maid«, mit »Hure«, »Magd« oder mit »Madona« an. Das Gegenbild der Hure fügt sich so nahtlos in die dem Bild der Jungfrau zugewiesene konfessions-definitorische Funktion. Über den Umweg der Hure wird zugleich der Begriff der Jungfrau und der Magd relativiert. Nachdrücklich macht dies ein Blick auf den Refrain eines Straßburg-Liedes aus dem Jahr 1681 klar. Zur Melodie von Ach der großen Sünd und Schand besingt man dort den Fall der Stadt mit den Worten: »Warst ein unbefleckte Magd -/ Jetzt zu dir man H... sagt«.94 Die Reunion mit Frankreich hatte für Straßburg die Katholisierung gebracht. In protestantischer Selbstdarstellung überschneidet sich die Magd so in ihrer Bedeutung mit Jungfrau und Braut; auf katholischer Seite dient die Bezeichnung dagegen tatsächlich, also nicht nur in protestantischer Polemik, der Herabsetzung - besonders in der Abwandlung zu 'Dienstmagd'. Als »schlecht[e] Dienstmagd« gehört die Stadt letztlich zur Welt der aus freiem Willen in Sünde Gefallenen: »Die aber wider GOtt und Recht,/ Als seind die Rebellanten,/ Wie Magdeburg ach, Dienstmagd schlecht!/ Verstärkt durch ihr Clamanten,/ Sich wider GOtt gesetzet hand,/ Dem frommen Kaiser Ferdinand/ Selbsten auch widerstrebet«.95
Als auffällig erweist sich in Bezug auf das zuletzt Gesagte allerdings, daß der Vorgang des 'Sündenfalls' - historisch betrachtet - reversibel erscheint, und das als Funktion der politischen Zeitsituation: Die Hure kann wieder zur Jungfrau werden. Hatte man nämlich - um kurz auf Straßburg zurückzukommen - die Stadt 1861 als »schand- und geile H[ure]« eingestuft,96 betrachtete man sie im Rahmen der nationalen Bestrebungen der Napoleonischen Kriege und des Deutsch-Französischen Krieges als »fromme Schwester« - bei Schenkendorf - bzw. als zumindest unschuldig Verführte, wenn nicht gar als Märtyrerin. Unter dem Titel Straßburg wiedergewonnen spricht Deutschland zu der eroberten Stadt: »Zweihundert lange Jahr/ Lagst du gefangen dar,/ Du schönes deutsches Kind,/ Da Frankreich dich umspinnt,/ Treulos gesinnt«. Und die Stadt antwortet: »Mit Tücken und Verrath/ Frankreich gewonnen hat,/ Mit falschem Glanz und Schein,/ Mich schöne Stadt am Rhein -/ Gesteh es ein«.97 Zwar begegnet die Möglichkeit des Rückgewinns der Unschuld im Zusammenhang mit dem Bild der Jungfrau bereits im Dreißigjährigen Krieg - wie das zitierte Beispiel Heidelbergs und Prags zeigt. Doch verband sie sich dort mit der katholischen Forderung nach Reue und Buße. Nun jedoch reinigt allein der nationale Gedanke der durch Frankreich erschlichenen Fremdherrschaft. Der entscheidende Faktor der hier einfließt, ist die Ausblendung der Möglichkeit zur freien Willensentscheidung: Was 1681 im Kontext der Zeit noch als Schuld der Stadt galt, wird jetzt als Schicksal ausgegeben. Aber selbst von solcher Warte aus betrachtet, fällt eine Gruppe von Texten scheinbar aus dem Raster heraus - die im Zusammenhang mit den Türkenkriegen entstandenen Lieder. Obwohl nämlich »der Türk« im Umfeld der Belagerung Wiens von 1683 noch mit dem Antichristen gleichgesetzt wird,98 spricht man die von ihm beherrschten Städte in Ungarn und auf dem Balkan dennoch angesichts ihrer Belagerung durch christliche Truppen zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts als jungfräulich an. Nun könnte man ihre unschuldige Eroberung durch die Türken hier ins Treffen führen; doch dem würde dann die Ambivalenz der Gesamtkonzeption widersprechen. Denn ganz offensichtlich entlehnte man beispielsweise für das Belgrad-Lied Prinz Eugenius und Belgarad99 aus dem Jahr 1717 lediglich die äußere Form eines früheren Liedes: In ähnlicher Konstellation wie Tilly 1632 umwirbt Prinz Eugen in einem Lied von 1708 die französische Stadt Lille zunächst als »herzallerliebster Schatz«, um sie dann als »lose[s] Weib« zu beschimpfen.100 1815 läßt man dann übrigens den österreichischen Erzherzog Johann in gleicher Weise der Stadt Hüningen gegenübertreten.101 Alle drei Texte stimmen in Aufbau und Formulierung bis ins Detail überein; man adaptierte sie jeweils nur durch den Austausch der Städte- und Ländernamen. Nun kann aber von einer prinzipiellen Übereinstimmung der Ausgangssituationen - etwa einer Gleichartigkeit des Konfliktes - nicht insofern die Rede sein, als daß sie eine derartige Kongruenz motiviert haben könnte. Vielmehr scheint man sich beider Bilder, Schatz und Dirne, in der Form rhetorischer Versatzstücke bedient zu haben. Sieht man also genauer hin, erkennt man deutlich jene zeitbedingten Säkularisierungsmomente, von denen bereits wiederholt gesprochen wurde. Damit zeigt sich aber am Bild der Hure noch wesentlich deutlicher als an dem der Jungfrau die Abhängigkeit seiner Aussage vom Ausmaß der religiösen Bestimmtheit des Zeitgeistes bzw. des einzelnen Dichters. Innerhalb solchen Rahmens sind städtische Jungfrau, Braut, Magd, Madonna, Hure und Metze untrennbar miteinander zu einer Sinn-Einheit verflochten: Es gibt keine Jungfrau ohne Hure und keine Hure ohne Jungfrau. Von »Gleichförmigkeit und Trivialität des Bildes von der als Frau ... imaginierten Stadt« und von - beliebig einsetzbaren? - »Variationsmöglichkeiten, die der Vergleich von Stadt und Frau bereithält«,102 kann demnach mit Rücksicht auf die dargelegte Gebundenheit nur sehr bedingt gesprochen werden. Die zuweilen polemisch bestimmte Durchlässigkeit der Bilder gegen einander - Weigel spricht von der »Spannung ambivalente[r] Frauenbilder«103 - ergibt sich dabei einzig aus dem Gesichtspunkt einer nicht akzeptierten geistig-religiös-moralischen Souveränität, die sich in ihrer Individualität von der tradierten Norm absetzt und damit als Bedrohung etablierter Besitzstände gesehen - und als solche bekämpft wird. In dieser Funktion läßt sich das Bild der Hure schließlich auch in anderen Bereichen deutschsprachiger Literatur beobachten - die Projektion auf die Stadt stellt hiervon lediglich eine Variante dar.
IV.
»Nur hohn und mitleid steigt zur mutterstadt/ Am felsen droben die mit schwarzen mauern verarmt daliegt × vergessen von der Zeit.// ... Sie spürt kein leid × sie weiss der tag bricht an:/ Da schleppt sich aus den üppigen palästen/ den berg hinan von flehenden ein zug: ...«
Stefan George: Die tote Stadt.
In der Gegenwart etwa findet die Apostrophierung als Hure in der oben definierten Funktion Eingang selbst in jene Sprache der Unterhaltungsliteratur, die durchschnittliche Alltäglichkeit zu suggerieren sucht und dadurch im Grunde genommen jene Art von Sprache zum Teil erst zu schaffen hilft: Ein in seiner Eitelkeit gekränkter Mann beschimpft die daran 'schuldige' Frau als Nutte, als Schlampe oder gar als Hure; eine Frau verleiht sich den Status der Rechtmäßigkeit, indem sie die unliebsame Nebenbuhlerin - die Ehefrau, die neue Freundin - in der Identifikation mit den genannten Bezeichnungen als unlautere Konkurrenz abqualifiziert. An einen biblischen Bezug denkt dabei wohl kaum noch jemand. Dennoch ist er unterschwellig präsent. Und obwohl wir uns mit diesem Exkurs zunächst abseits der Verweiblichung von Städten bewegen, so ist er doch dazu geeignet, wesentliche formale Merkmale jener eingangs behaupteten religiös bedingten Stadtallegorisierung zu verdeutlichen. Zum Einen setzt der unter Umständen reduktiv-interpretierende Neueinsatz des Bildes nicht unbedingt ein bewußtes Studium der biblischen Ur-Quelle voraus. Es genügt eigentlich jene globale Verinnerlichung der Konstellation, die sich durch eine gewisse interpretations-fähige Unschärfe auszeichnet; eben jene verschwommen-unterschwellige Kenntnis der Apokalypse und ihrer - durch die Kirche kanonisierten - Botschaft, die in einer christlich geprägten Kultur dem Einzelnen zu Gebote steht, der in christlichem Sinne erzogen wurde. Und dies gilt gleichermaßen für Autor wie Publikum. Zum Anderen geht es um die Rezeption von Strukturen; und zum Dritten um eine Verselbständigung von Details dieser Strukturen. Legt man etwa Jüngers zweigeteilten Stadtstaat Eumeswil104 an die Gegenbilder Himmlisches Jerusalem und Babylon an, so erkennt man in der Gegenüberstellung von frauenlos-geistigem Burgberg und tiefer gelegener, pulsierender Lagunenstadt deren Pendant. Vergleichbares gilt für die oben zitierten Verse aus Stefan Georges Gedicht Die tote Stadt.105 Gleichzeitig aber machen die beiden Beispiele deutlich, daß die Verweiblichung der Stadt neben der expliziten Personifizierung als Jungfrau und als Hure auch in einer attributiven Zuordnung weiblicher Elemente bestehen kann, wie bei Jünger. Es ließe sich nun darüber philosophieren, ob dieser Umstand auf unterschiedliche Rezeptionswege zurückzuführen sei: Personifizierung etwa bei direktem Apokalypsebezug, Attributierung als Ergebnis des Umweges über Augustins Zweistaaten-Modell. Doch soll es in der vorliegenden Untersuchung weniger um die präzise Ortung eindeutiger Quellen gehen; sondern um das Sichtbarmachen literarischer Strukturen, die auf der in einem Kulturkreis allgemeinen Kenntnis des Aussagewertes eben dieser Quellen beruhen - zumal diese alle in einem linearen Rezeptions-Zusammenhang stehen. Deshalb soll hier auch nicht einer gezielten auktorialen Umsetzung christlicher Lehre 'als' christlicher Lehre das Wort gesprochen werden; das anzunehmen, ginge wohl in Richtung einer Überinterpretation. Das Verhaftetsein in die daraus resultierenden Denkstrukturen, ohne dabei notwendiger Weise bewußt deren Herkunft zu reflektieren, gilt es aufzuzeigen. Einzig für Werke jüdischer Autoren muß wohl eine Beschränkung auf - aus christlicher Sicht - alttestamentarische Bezugspunkte angenommen werden.
Wie macht sich nun aber die Rezeption besagter Strukturen kenntlich? Betrachten wir kurz die utopischen Städte in der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier wird die Position des bräutlich-himmlischen Jerusalem von dem abstrakten Konstrukt der Stadt als geistigem Prinzip eingenommen. Man denke nur an Curt Hohoffs verbotene Stadt106, die von einer profan-materialistischen Stadt umschlossen wird; sie wiederum erinnert an das babylonische Konzept. Überhaupt gilt für die in Frage kommenden Utopien das Prinzip der Abstraktion; denn auch die bereits angesprochene Attributierung des Weiblichen gehört hierher. Die Umsetzung des globalen spirituellen Gehalts der biblischen Bilder steht im Vordergrund. Die utopische Komponente eines historisch-humanistischen Stadt-Gemeinschafts-Konzeptes steht gegen die, wenn man so will, reale Komponente der zeitspezifisch-modernen Großstadtgesellschaft. Ihr kommt vorzüglich kontrastive, nicht aber eigenständige Funktion zu. Die sinnlich-greifbaren Details der Verbildlichung jenes spirituellen Gehalts - darunter die Personifikation der beiden Städte Babylon und Jerusalem - machte im Gegensatz dazu vor allem jene Dichtung literarisch fruchtbar, der es um Deutung von Gegebenheiten unter Vermeidung breit angelegter utopisch-didaktischer Komponenten geht: seien es nun soziale Gesichtspunkte, weltanschaulichkulturelle oder aber ganz individuelle Befindlichkeiten, die sich aus den Zeitumständen ergeben. So können in Zeiten verstärkter religiöser Orientierung - oder im Werk eines religiös geprägten bzw. interessierten Dichters, und sei es nur in dessen Auseinandersetzung mit der christlichen Religion, die in deren Ablehnung endet - auch Bilder in jener Bedeutung vermeintlich 'wiederkehren', die sie bereits früher einmal in vergleichbarer Weise innegehabt haben - wie etwa die 'feindliche' Stadt als Hure. 'Vermeintlich' deshalb, weil - der eingangs aufgestellten These folgend - dabei keineswegs die Rezeption früherer literarischer Zeugnisse involviert sein muß - obschon sie natürlich nicht grundsätzlich auszuschließen ist. In diesem Sinne sollte man wohl auch nicht die Stadtjungfrauen des Dreißigjährigen Krieges zwingend als »direkte Vorläufer für den Bildgebrauch Ernst Jüngers« namhaft machen, wie Weigel dies tut - mit Bezug auf den Vermerk in Jüngers Pariser Tagebuch, nach dem Städte weiblich seien und »nur dem Sieger hold«;107 ganz abgesehen davon, daß die Aussage zu wenig differenziert erscheint. Die wesentlicheren Faktoren solcher Parallelen dürften eben eher in der sozialen Bedeutung der Bildquelle und, darüber hinaus, in einer ähnlichen Sicht der historischen Situation zu suchen sein. Sie aktiviert dann jene religiösbildliche Prägung im Bewußtsein des Menschen. Angesichts solch postulierten Zusammenwirkens von Ausgangsbedingungen sei nur an Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz erinnert. In expliziter Deutlichkeit spricht er von der Stadt als »großer Hure«. Seine Handlung kreist um Franz Biberkopf und um die Verletzungen, die diesem in der Großstadt Berlin zugefügt werden - oder werden sie ihm in der Interpretation des auktorialen Bewußtseins durch die Stadt zugefügt? Sollte dem so sein, materialisierte sich 'Feindlichkeit' nämlich einmal mehr im Bild der Stadt-Hure - auch wenn dies unter veränderten Vorzeichen geschähe: Nicht mehr das Kollektiv eines Staates oder einer religiösweltlichen Herrschaftsform stünde gegen die Stadt, sondern das als schutzlos gezeichnete Individuum; nicht mehr um die Bedrohung von Machtinteressen ginge es, sondern um existentielle Bedrohung. Erst als sich Franz Biberkopf dem Tode nah in die Stadt-Gesellschaft zu integrieren beginnt, reitet die Hure Babylon auf ihrem scharlachroten Tier davon und läßt von ihm ab108: »Er steht nicht mehr allein am Alexanderplatz. Es sind welche rechts von ihm und links von ihm, und vor ihm gehen welche, und hinten gehen welche«.109 'Feindlichkeit' der Stadt bedeutet in Döblins Roman - und nicht nur dort - tatsächlich Menschenfeindlichkeit des großstädtisch-proletarisierten Lebensraums zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Konstellation der 'feindlichen' Stadt erscheint hier durch den Bezug auf das Individuum gleichsam privatisiert. Indem dies aber geschieht, gibt der Text Zeugnis vom verstärkten Interesse seiner Zeit an Individualität. Zwar hat sich die städtische 'Feindlichkeit' damit verschoben; die Kategorien ihrer Bewertung sind dagegen dieselben geblieben. Der im biblischen Text als ein strukturelles Detail der Unmoral angeführte Zug der Menschenverachtung präsentiert sich so in Döblins Roman als der eigentliche Knotenpunkt dessen, was man auch für das Ergebnis einer Rezeption überlieferter literarischer Zeugnisse halten könnte.
Behält man diese Möglichkeit der kulturell bedingten Parallelität im Auge, dann würden konsequenter Weise auch Diskussionen darüber müßig, welche der europäischen Literaturen wohl die Stadtpersonifizikationen des sogenannten deutschen Frühexpressionismus inspiriert haben mögen. Auftretende Ähnlichkeiten zwischen den dichterischen Stadtbildern Heyms und denen Rimbauds oder Baudelairs etwa müssen dann nicht mehr das Ergebnis bewußter Rezeption und anschließender - sei es nun unbewußter oder gezielter - Dichtung im Stile von ... sein, auch wenn übereinstimmende Werktitel diesen Verdacht erregen mögen.110 Denn die vertiefende Rezeption eines bestimmten Schriftstellers bedarf nicht zuletzt eines Mindestmaßes an weltanschaulicher Übereinstimmung, um in Gang zu kommen. Trotzdem kann einem in diesem Zusammenhang nicht entgehen, daß außerhalb des zunächst vorrangig behandelten konfessionell-kriegerischen Kontextes früherer Jahrhunderte einzig die Babylonische Hure mit ihrem Umfeld einen Platz in der Literatur behauptet, wenn es um die Verkörperlichung von Städten geht. Auch Weigel übersieht diese Quelle nicht; auf deren dominant-prägende motivisch-ideelle Implikationen für den christlich-jüdischen Kulturkreis geht sie jedoch nicht ein: »Um nun der Frage nachzugehen, warum die Verbindung von Frau und Stadt in der Literatur eine so verbreitete und stabile Bildlichkeit produziert hat, möchte ich einen Blick auf die Genealogie dieser Verbindung werfen, ... Den Erzählungen von Apokalypsen, in deren Zusammenhang das Bild von der Hure Babylon auftaucht, gehen andere Mythen voraus ...«.111 Die jungfräuliche Braut dagegen fehlt beispielsweise in der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, sieht man davon ab, daß etwa das vordergründige Eindringen in eine Stadt als Akt der Entjungferung offenbar auf Dauer dem dichterischen Inventar zugeführt worden ist. Doch wo mögen die Gründe für diese Selektion zu finden sein? Könnte es möglicherweise daran liegen, daß das biblische Bild von der »großen Hure« bereits einen höheren Grad an unmittelbarer Personifizierung aufweist als das nur am Rande eingeführte der Braut? Und bietet es darüber hinaus nicht ein breiteres Spektrum sinnlich-eindringlicher Facetten? Oder ist einfach das darin zum Ausdruck kommende Ambivalente der menschlichen Natur interessanter als das Geradlinig-Eindeutige? Denn schließlich präsentieren Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur eine menschenfeindliche Stadt unter dem Bild der Hure, wie Döblin; auch besteht keine durchgängige Tendenz, »das Bild der Hure ... in apokalyptisch bewerteten Situationen, zur Kennzeichnung von und Warnung vor negativ empfundenen Entwicklungen [zu] verwenden«112 - dies galt noch am ehesten für die Polemik konfessioneller Auseinandersetzung: Für das zwanzigste Jahrhundert bedeutet die babylonische Assoziation ebenso sehr die Anziehungskraft großstädtischen Lebens, jenen Hauch von Verruchtheit eben, der im biblischen Text opulent ausgestaltet ist. Und die Anziehung überwiegt hier bei weitem die Abstoßung. Etwa weil der Mensch darin seine verborgenen Wünsche erkennt? Dies setzte aber voraus, daß sie ihm bewußt sind oder aber bewußt gemacht worden sind - etwa durch neue revolutionäre Theorien, die großräumige und, vor allem, bleibende Verbreitung gefunden haben, wie Sigmund Freuds Lehre vom Einfluß des Unbewußten, von der Bedeutung der Kindheit für das spätere psychische Leben oder von jener der Träume. »Die dunkle Stadt, sie schläft im Herzen mein/ Mit Glanz und Glut, mit qualvoll bunter Pracht«, heißt es beispielsweise bei Hofmannsthal;113 und von ihm weiß man, daß er sich intensiv mit Freuds Theorie des Unbewußten beschäftigte.114 Weigel bezieht sich in ihren Aufsätzen vornehmlich auf die Schriften Walter Benjamins,115 der seine Interpretationen zu städtischer Architektur in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verfaßte, also in quasi nach-freudianischer Zeit: Und er versteht die Stadt als Labyrinth, das nur derjenige zu erkunden auszieht, den »tiefere Motive« dazu bewegen: »Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist«, wie er in einer Rezension von Franz Hessels Buch Spazieren in Berlin schreibt.116
Einen deutlichen Hinweis darauf, daß der literarische Diskurs über städtische Architektur - und im speziellen die Babylon-Konnotation - nun tatsächlich in gewisser Weise Kindheitserlebnisse widerspiegelt - und sie gleichzeitig im Rezipienten wachruft - gibt Horst Bienek mit seinem Text Die Türme meiner Stadt: Es war die Großtante Milka, die dem Protagonisten in seinen Kindertagen »nicht häufig genug aus der Bibel vorlesen konnte«; immer wieder wollte er über den Turm zu Babel hören, »dem Turm aller Türme, Alpha und Omega der Baukunst überhaupt«. Und »mit der Fantasie eines Kindes hoffte [er], diese unendliche Entfernung mit ein paar Dutzend Bauklötzen überwinden zu können. Auch später hat diese Leidenschaft niemals nachgelassen, im Spiel nicht und nicht im Eifer eines Schachwettbewerbs, im Theater nicht und nicht im Kino ...«.117 Was die literarische Figur hier beschreibt, entspricht exakt jenen Überlegungen zur psychotherapeutischen Implikation der literarischen Architekturdarstellung, die Gerhardt Kapner auf der Grundlage von Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt: »Als Resultat kann nunmehr hier die These der Bellestristik vorgelegt werden, daß >Emphatie<, also die >Einfühlung< in Kunst, und sei es Alltagskunst wie hier die Alltagsarchitektur, nicht bloß ein oberflächlicher Nachvollzug, sondern zugleich Regression ist, d. h. Reaktualisierung früherer, ja frühester emotionaler Situationen, in denen der Rezipient Dinge - wie hier eine Stadt - noch zu anthropomorphen, beseelten Wesen machte, fallweise sogar Identität zwischen sich und ihnen erlebte«.118 Kehren wir unter diesem Gesichtspunkt zum Protagonisten von Bieneks Text zurück, so mag man kaum an Zufall glauben, wenn diesem ausgerechnet im höchsten Turm seiner Heimatstadt ein 'babylonisches' Erlebnis widerfährt: Er läßt sich von einer Frau verführen, in voller Kenntnis dessen, daß sie die Geliebte eines anderen ist. Es dürfte also durchaus berechtigt sein, für das zwanzigste Jahrhundert in der Rezeption von Freuds Lehre den wohl entscheidenden Anstoß zur interpretativ-abweichenden Literarisierung der Stadt im Kontext des babylonischen Bildes zu sehen. Funktionalisierte man früher in erster Linie den Aspekt der Untergangsdrohung aufgrund der veranschaulichten 'Unmoral', so wendet man sich nun dem gesamten Bild in all seinen - auch konnotativen - Facetten zu. Hatten etwa in der polemischen Dichtung des Dreißigjährigen Krieges die Details babylonischer Verworfenheit sich der Gesamtaussage untergeordnet, so existieren sie nun sowohl im Zusammenspiel als auch eigenberechtigt - und darüber hinaus nicht mehr als absolute Wertigkeiten. Man löste sie heraus: Das Detail gedieh zur Struktur, um in komplexeren Bildern und Bezügen wieder zusammengesetzt zu werden. Babylon hat somit seinen primär polarisierenden Status »der Stadt als der großen Verführerin, die der Macht und dem Geld mehr zugetan sei als der guten Idee bzw. der Idee vom Guten«, wie Weigel es formuliert, eingebüßt.119 Die Stadt als Hure steht nun neben der Stadt als Ort des Dämons; die Stadt als Mutter überblendet sich mit der Stadt als Hure - sie beschützt und bedroht zugleich. Und schließlich gibt es da noch den Stadtgott, der eigentlich mehr Götze zu sein scheint. Doch damit hat sich gleichzeitig der Schritt von der Verweiblichung der Stadt zur Verkörperlichung und zur generellen Be-Lebung der Stadt vollzogen - und sei es nur in Form von Exponenten einer Welt, die im weitest möglichen Sinn in Beziehung zur Vorstellung von der Babylonischen Hure gesetzt werden kann. Daß Weigel den Übergang zur Verkörperlichung bereits im neunzehnten Jahrhundert ansetzt,120 stellt dazu keinen grundsätzlichen Widerspruch dar - höchstens eine qualitativ andere Sicht des Problems. Denn die Verkörperlichung der Stadt zu jener Zeit beruhte - zumindest in der deutschsprachigen Literatur - auf metaphorischer Oberflächen-Analogisierung,121 während nun subjektive Realität und physische wie psychische Befindlichkeit in die Individualität einer Stadt gespiegelt wird und damit eine verkürzte Deutung erfährt - vergleichbar der Art, wie der Protagonist in Paul Nizons Jahr der Liebe seine Sicht der Stadt Paris analysiert. »Die Stadt schien mir jetzt«, heißt es dort, »oft von einer glazialen Schönheit, zum Erfrieren abweisend; sie schien mir wohl deshalb so, weil ich meine Panik in sie hineinprojizierte, Starre und Kälte waren der Reflex meiner eigenen Verfassung: dieses Fremdseins«.122