BABYLONS ERBE. Teil 2 (German)

III.

 

 

»Einer der sieben Engel, die die sieben Schalen trugen, kam zu mir und sagte: >Tritt her! Ich werde dir zeigen, wie die große Hure, die Stadt, die an vielen Wasserarmen erbaut ist, bestraft wird. Die Könige der Erde haben sich mit ihr eingelassen.<«

                                                                                Offenbarung des Johannes, Kap. 17, V. 1-2.

 

    Wenn nun aber die Jungfräulichkeit einer Stadt in den zur Be­trachtung herangezogenen Werbe-, Droh- und Klageliedern Recht­gläubig­keit und Loya­lität zum Herrscher verkörpert haben soll, kann sie kon­sequen­ter Weise nur eine Facet­te jener religiös verwurzelten Verweib­li­chungsten­denz vorstellen, von der bis­lang die Rede war. Denn es gab schl­ießlich auch 'abtrün­nige' und sich wider­setzende Städte, und das nicht erst zur Zeit der Re­forma­tion und des Dreißigjäh­rigen Krieges. Fol­gen wir unserem Schema in der eingeschlagenen Rich­tung weiter, so wären diese den Ver­führungen der Welt des Satans bzw. der Welt Baby­lons erlegen - und das unab­hän­gig da­von, ob wir in prote­stanti­schen oder katho­lischen Katego­rien denken. Es muß daher die Frage gestellt wer­den, wie solche Städ­te in der je­weils zeit­genös­si­schen Dich­tung er­schei­nen. Soll­te man sie glei­ch­falls als Jung­frauen alle­go­ri­siert haben, müßte man die bis­lang dar­ge­legte These nämlich als wider­legt be­trach­ten. Hätte man sie dagegen etwa als Hure apo­stro­phiert - in Analo­gie zur »großen Hure Baby­lon« der Johan­nes-Of­fenba­rung -, würde der Ansatz da­durch ge­stützt. Zwei kontro­ver­siel­le Bilder ergänzten sich dann näm­lich in ihrer Aussage, indem ihre Funk­tionen einander aus­schlös­sen - immer unter der Voraussetzung allerdings, man be­fände sich in­nerhalb desselben Systems. Träfen hingegen zwei ge­gensätzliche Systeme auf einan­der, wäre die Jung­fräulichkeitsalleg­orie der Stadt zunächst als Funktion des jeweiligen Blick­winkels zu be­trach­ten: Jungfrau dürfte die Stadt jeweils nur für den sein, der sich auf der Seite der Rech­tlich­keit sieht und der sich eben daraus den Be­sitz der Stadt, sprich, ihre Kapitu­lation, ihre Konversion oder aber ihre bereits bestehende Zugehörigkeit zur eige­nen Ein­flußsphäre er­klärt - so, wie es oben gezeigt werden konnte, wenn auch be­schr­änkt auf den säkularisierten Fort­bestand des Bildes. Oder mit anderen Wor­ten: Was sich dem einen als Treue darstellt, gilt seinem Kon­trahenten als Abtrün­nigkeit. Erst dann könnte man sich dem Eigentlichen zuwenden: dem Gedan­kengut, das über das Bild transportiert wird. Das heißt zum Einen, daß der über­grei­fende Ver­gleich von prote­stanti­scher und ka­tho­li­scher Dich­tung keine gültigen Ergeb­nisse bringen kann, sondern aber­mals nur der ge­sonder­te. Zum anderen, könnte man sich bei kon­sequenter Ver­fol­gung des Ansatzes den Fall vorstel­len, daß ein und dieselbe Stadt Jungfrau und Hure zugleich ver­körpert - je nach dem, ob der Dichter in einer konfessionell sensibilisierten Zeit prote­stantisch oder katholisch bekennt. Dies würde in wei­terer Folge ganz spezifische Auswirkungen auf eine mögliche Funktionalisie­rung des Bildes zeitigen. Denn Jung­frau innerhalb der Selbst­dars­tellung des Systems ist nicht notwendiger Weise ident mit Jung­frau der Fremd-Betrachtung des Systems. Man könnte auf die­ser Grundlage etwa religiöse Polemik bis zur Blasphemie zu­spit­zen: Man sagt Jungfrau und meint Hure. Damit al­ler­dings müßte sich für die 'abtrünnige' Stadt ein we­sentlich fa­cettenreiche­res Bildspektrum ergeben, als es für die 'treue' Stadt der Fall ist. Und tatsächlich findet man die zunächst rein theoretischen Über­legungen in den Texten entspre­chend belegt - zwar nicht in gro­ßer Häufig­keit, aber doch prin­zipiell.

    Einen er­sten Hin­weis in die diskutierte Richtung gibt die fre­ündli­che war­nung an die Venedi­ger, die an der Wende vom fünf­zehn­ten zum sech­zehnten Jahrhundert als letzte Seite der Vene­diger Chroni­ca gedruckt wurde. H. Fischer ver­weist auf den Text in einem Beitrag zur Zeitschrift »Ger­mania« aus dem Jahr 1878­.89 Es han­delt sich um ein gegen Venedig gerichtetes »Pam­phlet«, das sich zum fik­tiven Ziel setzt, den Venezianern die »vrsac­he des schad­li­che Kry­egs, do mit sye bitzhar vo Romi­scher Key. Maiestat so schwar­lich ge­strafft seind«, zu erläu­tern. Die Schl­ußstell­ung des Gedich­tes läßt darauf schließen, daß es eine Art Zusam­men­fassung der be­gangenen Vergehen in kurz faßlich-poin­tierter Form dar­stellen soll - quasi die Moral von der Ge­schicht. Was hatte sich die Stadt aber zu Schul­den kommen las­sen, daß es eine Bela­ge­rung durch Kaiser Maximili­an rechtfertig­te? Antwort darauf ge­ben uns die beiden mittleren Verse des Gedichtes: »Bapst, Key­ser darzu ach­test klei­n,/ In eygnem gwalt vertrost al­lein«. Man setz­te also auf Unab­hängigkeit und Selbst­verwaltung in der sel­bst­bewußten Lagunenstadt. In der Gesamt­anlage der Argu­men­tation er­scheint die­ser eigentliche Grund allerdings durch den Zusatz »darzu« inso­fern abgeschwächt, als er nur den letzten Ausschlag gab: Die Summe der übrigen Vergehen wiegt viel schwe­rer, sagt uns der Dichter damit. »Vene­dig, sych dich eben für«, warnt er deshalb gleich zu Beginn und fährt fort: »Dein hochmut würt ge­stilt, glaub mir/ Dein geyt, vn üppig eytel eer/ Mag nit ver­tragen bliben meer,/ Auch ander dein vn­redlich that,/ Wiewol die bitz­har gduldet hat/ Der gyetig Gott nun lange zyt,/ Danocht kein besßrug bey dir lyt«. Hochmut, Ei­telkeit, Üppigkeit, Unbe­lehrbar­keit, überdies mangelnde Reue und fehlende Demut gegen die In­stanzen göttlicher Herrschaft auf Erden, das ruft nach »ge­rech­ter« Stra­fe: »Venedig, sych dich eben für./ Dan dir die str­aff ligt vor der thür,/ Durch Keyser Maxi­milian./ Dein Chro­nick würt dz schribe an,/ Vnd spreche mancher. Wer hat das/ Vermeint: etwan venedig was/ Be­sitzen land, leüt, wassers flut,/ Nun ligt es nider vnbehut,/ Ein fischer hüttlin ellendk­lich./ venedig, des versych du dich«.90 Das ist aktualisier­te Fassung der Vision von der großen Hure Babylon und deren von Gott her­beige­führtem Untergang. Die rein poli­tisch motivierte Aktion er­hält so einen religiös-moralischen Rahmen; Willkühr mutiert zum gött­lichen Willen. Tatsächlich greift die Dichtung der frü­hen Neu­zeit also auf besagte Bibelstell­e zu­rück. Daß dies im Kon­text des oben postu­lierten Bedeu­tungssystems ge­schieht, macht die dem Gedicht ange­schlossene Widmung deutlich. »Darumb zu be­schlusßs dißes Büchlins - wil ich dißen Reymen der muter Got­tes, vnd frawen Margarethen von Flan­deren zu eeren geschriben haben. ... Zu hjinlegung vil kryegs vnd guer­den,/ Ein. M. in hymeln, vnd eins vff erden«. Man legt der jungfräuli­chen Mutter Gottes sozu­sagen Rechen­schaft darüber ab, daß man als guter Christ die Widersa­cher der einzig seligma­chenden Bot­schaft ihres Sohnes wirkungs­voll be­kämpft - und dazu zählten nach damaligem Weltver­ständ­nis eben auch Länder, Städte oder Bürger, die sich kai­ser­lichem Willen wi­dersetzten. Fränkels Sicht, Venedig er­scheine »unter dem bilde einer spröden kokette[n]«,91 bleibt da zu sehr an der Ober­fläche und zu sehr den literarischen Katego­rien der eigenen Zeit ver­haf­tet. Sie übersieht den Zeichencha­rakter des Bildes in­nerhalb des konkreten Bezugrahmens zugunsten einer Bewertung als lyri­schem Versatz-Stück, mit dem man die Indivi­dualität der Stadt beschreibt.

    Unter diesem Gesichtspunkt bleibt weiter zu fragen, ob es sich bei der warnung an die venediger um einen vereinzelten Text dieser Art handelt oder ob er in einer erkennbaren motivi­schen Entwick­lung verankert ist - und wenn ja, in welcher Weise. Un­terlag beispielsweise die dem Pu­blikum ver­mittelte Aussage ähn­lichen Verände­rungen, wie dies bei der städ­tischen Jungfräu­lich­keit der Fall ist? Im Über­blick läßt sich dazu vor­wegnehmend sa­gen, daß hier ein Säkula­risierungsprozeß nicht mit jener Rigo­rosität Platz gegrif­fen hat, wie er den spiri­tu­ell-religiö­sen As­pekt der städ­tischen Jungfrau völlig im Poli­tischen auf- bzw. untergehen ließ. Be­schränken wir uns näm­lich zunächst auf den Bereich unse­rer pole­misch-kriegerischen Dichtungen, so begegnet man in ihnen dem reli­giö­sen Kern des Babylonbezuges auch noch zu Beginn des zwan­zig­sten Jahr­hunderts in einer moralischen Diskre­di­tie­rung des Geg­ners. Denn Moral hat im weitesten Sinne ja doch immer noch mit Religion zu tun. Zwar möchte man ange­sichts der in Frage stehen­den Texte eher »mo­rali­sie­rend« sa­gen; schließlich ließe sich der arti­ku­lier­te Stand­punkt leicht auf den verkürzten Nen­ner brin­gen: Wer religi­ös ist, lebt ent­halt­sam­-sittenstreng und glanz­los; wer das Leben zu sehr liebt, kann nicht im christ­li­chen Sinn religi­ös und folg­lich nicht moralisch integer sein. Darauf baute beispielsweise die preu­ßische Verhöh­nung Fran­k­reichs von 1870-71 letztlich auf. Zur Veranschaulich­ung seien nur an Wilhelm Jensens Verse auf die bevorstehende Be­la­ge­rung der Stadt Paris erinnert: »Die falschen Götter klage dann, zu denen du vergebens ruf'st,/ Den nichtigen Schein dann klage du an, den statt der Wirklichkeit du schuf'st,/ Die Lüge, die am Busen du ge­nährt, der du Halle­luja/ An tausend von Altä­ren san­gst - sie klage an Lutetia!// Und klage an den hohlen Prunk, den deiner Eitelkeit du dankst,/ Und klage an der Wollust Trunk, den du zur tiefsten Hefe trankst,/ Die Feilheit, die dein Mark ent­nervt, die sich zum Götzenbild ersah/ Die Tri­nität: Gold, Macht und Rang - sie klage an, Lute­tia!«92 Nun hatte Paris und dessen Le­benskultur auf das gesamte neun­zehnte Jahr­hundert eine nahezu magi­sche Anziehungskraft ausge­übt. Es war der Tref­fpunkt der euro­päischen Intellektuel­len ebenso wie der mythi­sierte Ort der Lebensfreude gewesen, die man­cher etwa im preu­ßisch-puritani­schen Deut­schland vermißte. Deutschlands demo­kra­tisch-kritisch gesinnte Schriftsteller der Zeit um 1848 leb­ten dort. Man denke nur an Ludwig Börne und Heinrich Heine. Letzte­rer verkehr­te gar in den Krei­sen der Saint-Simonisten, deren sozialisti­sche Ideen sich mit religiösen Ambitionen ver­banden; im be­sonderen richtete man sich gegen die vom Christen­tum gebo­tene Un­terwer­fung des Fleisches durch den Geist. Zwar unter­lagen Börnes Bri­efe aus Paris genauso der Zensur wie Hei­nes Texte; von 1835 an hatte Heine de facto Publika­tionsverbot. Dennoch präg­ten die Werke beider Autoren das deut­sche Frank­r­eichbild mit, schon allein dadurch, daß man sie in einer politisch unru­higen Zeit als sta­ats-feind­lich brand­markte - und damit natür­lich auch den Staat und die Stadt, die ihren Autoren Unterschlupf ge­währ­te. Zum Ruf der Leichtle­bigkeit gesellte sich so der des Ver­rats. Manch 'biede­rer' Bür­ger mochte da wohl fürc­h­ten, solch laten­ter 'Sit­tenverfall' könnte an­stec­kend wirken. Und wie zur Bestätigung griff die französi­sche Revolu­tion von 1848 unmittel­bar auf Deut­schland über. Bis­marcks ag­gressive Politik ab 1862 schürte sol­che Ressen­timents schließlich noch: Nicht um­sonst nennt sich die 1870-1871 entstan­dene Sammlung, der Jensens Ge­dicht ent­nom­men ist, Lieder zu Schutz und Trutz. Wie aber könn­te ein pro­pa­gier­tes Feindbild besser aufrecht erhalten wer­den als über ein ge­zielt angeheiztes religiös-moralisches Un­schuldsempfin­den? Darin unterscheidet sich der Text des neun­zehnten Jahrhun­derts in nichts von jenem des beginnenden sech­zehnten. Beide bedienen sich eines konkreten christlichen Glau­bensinhalt­es, um dem Volk Machtkämpfe plausi­bel zu machen - mit dem einen, aber entschei­denden Un­terschied jedoch, daß in der frühen Neuzeit die Über­ein­stim­mung von staat­licher und kirch­licher Sphäre in gewis­ser Weise wirk­lich noch bestand, während sich die Propagan­damaschi­nerie des Deutschen Bundes ihrer le­dig­lich verbrä­mend be­mächtig­te.

    Nicht ein Wandel in Aussage oder Motivation prägt somit die jeweils zeitspezifische Funktionalisierung des Bildes von der »feindli­chen« Stadt in Hurenges­talt sondern das Ausmaß der Dis­krepanz der darin - zunehmend suggestiv - verquickten Berei­che. Trotzdem muß man sich zu Ende des neunzehn­ten Jahrhun­derts einer leben­digen Kennt­nis der bibli­schen Refe­renzstell­e beim inten­dierten Publi­kum sicher gewesen sein. Schließlich können Texte wie der oben zi­tier­te immer nur im so­zia­len Ge­samtkontext gese­hen wer­den, der sie her­vor­ge­bracht hat. Und die beste Pro­pagan­da wird wertlos, wenn sie nie­mand ver­steht - beson­ders im vor­lie­gen­den Fall einer indi­rekten Selbstdarstell­ung der eige­nen Na­tion. Tat­sächlich hatte sich nun das neun­zehn­te Jahrhun­dert - in einer Gegenströmung zum acht­zehnten - wieder spiritu­ell-reli­giösen Werten zugewandt. Die Kon­fes­sio­nen gingen aber­mals daran, ihr Profil zu be­stimmen; man hatte in Folge des­sen nicht nur seine Glaubensinhalte parat, sondern war auch auf die Her­stel­lung religiös motivierter Zusammenhänge sensibilisiert. Daß man auf dieser Grundlage den Versuch der nationalen Selbstdars­tell­ung über den Umweg des Nega­tiven unternimmt, ver­bindet - rein formal betrach­tet - den Text des neunzehnten Jahr­hunderts einmal mehr mit jenem des sechzehn­ten. Beide leben von der im­pliziten Dichoto­mie, die das biblische Bild vor­zeich­net: Hat man näm­lich die la­ster­haft-gottes­lä­ster­liche Hure rhetorisch bereits dem Kon­tra­henten zu­gewiesen, ble­ibt für einen selbst nur mehr die jung­fräulich-unschuldige Braut - und damit die Recht­ferti­gung, die Hure und alle, die ihr hörig sind, zu vernichten: eben jene »Könige der Welt, [die] sich mit ihr eingelassen« haben. Das muß man mit-denken. Nur so wird ver­ständ­lich, wieso Ema­nuel Gei­bel in einem Gedicht seiner Her­olds­rufe Deutsch­land auffor­dert, sich als Braut zu schmücken, und in einem anderen den Gegner unter dem Titel Ein Psalm wider Babel diffamiert93: Man kon­stru­ierte auf dem bibli­schen Hinter­grund eine Ge­dan­kenwelt der Ge­gensatz­paa­re, die auf eine agi­ta­to­risch be­setzte Polari­tät zwi­schen Böse und Gut ab­zielt. Die postulierte Analogie läuft dabei je­doch le­dig­lich über einen der beiden Pole. Anders da­gegen etwa in der Zeit des Drei­ßigjäh­rigen Krie­ges und der daran anschlie­ßenden Kon­flikte. Hier setzt man auf explizite Deutlich­keit im Sinne einer kon­trastiven Nen­nung bei­der Exponen­ten. Das bringt uns zu der An­nahme zurück, es kön­ne viel­leicht sogar unter­schie­dli­che Bil­der gegeben haben, die auf der bibli­schen Quelle be­ruh­ten - so wie Jungfrau und Braut par­allel zu­ein­ander auftre­ten und sich in ihrem Gehalt überla­gern. Kehren wir dazu noch­mals für einen Augenblick zu dem Ge­spräch zwischen Tilly und Magde­burg aus dem Jahr 1632 zurück und zu der darin arti­kulier­ten fiktiv-katholi­schen Haltung des ligi­stischen Feld­her­ren. Die »Metze« und die »Hure« werden hier zum protestanti­schen Signal jener Blas­phemie, die man Katholiken unterstellt: Tilly spricht Magde­burg je nach dem Grad des gelei­steten Wider­standes unter­schieds­los mit »tu­gendsame, hochgeehrte Jungfrau«, »du Metze«, »tolle Maid«, mit »Hure«, »Magd« oder mit »Madona« an. Das Ge­genbild der Hure fügt sich so nahtlos in die dem Bild der Jung­frau zu­gewie­sene kon­fessions-definitori­sche Funktion. Über den Umweg der Hure wird zugleich der Begriff der Jung­frau und der Magd rela­tiviert. Nachdrücklich macht dies ein Blick auf den Re­frain eines Straß­burg-Liedes aus dem Jahr 1681 klar. Zur Melo­die von Ach der gro­ßen Sünd und Sch­and besingt man dort den Fall der Stadt mit den Worten: »Warst ein unbe­fleck­te Magd -/ Jetzt zu dir man H... sagt«.94 Die Reunion mit Frank­reich hatte für Stra­ßburg die Ka­tholisierung gebracht. In pro­testanti­scher Selbst­darstell­ung über­schneidet sich die Magd so in ihrer Be­deutung mit Jung­frau und Braut; auf ka­tholi­scher Seite dient die Be­zeichnung dagegen tatsäch­lich, also nicht nur in protestanti­scher Polemik, der Herabset­zung - beson­ders in der Ab­wandlung zu 'Die­nst­magd'. Als »schle­cht[e] Dien­stmagd« gehört die Stadt letzt­lich zur Welt der aus freiem Willen in Sünde Gefalle­nen: »Die aber wider GOtt und Rech­t,/ Als seind die Rebellanten,/ Wie Magdeburg ach, Die­nst­magd schlecht!/ Verstärkt durch ihr Claman­ten,/ Sich wider GOtt ge­setzet hand,/ Dem from­men Kaiser Ferdi­nand/ Selb­sten auch wider­strebet«.95

    Als auffällig erweist sich in Bezug auf das zuletzt Gesagte al­lerdings, daß der Vorgang des 'Sündenfalls' - historisch be­t­rach­tet - reversibel er­scheint, und das als Funktion der poli­tischen Zeitsituation: Die Hure kann wieder zur Jung­frau wer­den. Hatte man nämlich - um kurz auf Straßburg zurückzu­kom­men - die Stadt 1861 als »schand- und geile H[ure]« einge­stuft,96 be­trach­tete man sie im Rahmen der natio­nalen Be­strebun­gen der Napoleo­nischen Kriege und des Deutsch-Französi­schen Krieges als »fromme Schwe­ster« - bei Schenkendorf - bzw. als zu­min­dest un­schuldig Verführ­te, wenn nicht gar als Märtyrerin. Unter dem Titel Straß­burg wiederge­wonnen spricht Deutschland zu der eroberten St­adt: »Zwei­hundert lange Jahr/ Lagst du ge­fan­gen dar,/ Du schönes deut­sches Kind,/ Da Frankreich dich um­spinnt,/ Treu­los gesinnt«. Und die Stadt antwortet: »Mit Tücken und Verrath/ Frankreich gewonnen hat,/ Mit falschem Glanz und Schein,/ Mich schöne Stadt am Rhein -/ Gesteh es ein«.97 Zwar begegnet die Mög­lichkeit des Rückge­winns der Unschuld im Zu­sammenhang mit dem Bild der Jung­frau bereits im Dreißigjährigen Krieg - wie das zitierte Bei­spiel Heidel­bergs und Prags zeigt. Doch verband sie sich dort mit der ka­tholischen Forderung nach Reue und Buße. Nun jedoch reinigt allein der nationale Gedanke der durch Frankreich er­schlichenen Fremdherrschaft. Der ent­scheidende Faktor der hier einfließt, ist die Ausblendung der Möglichkeit zur freien Wil­lensentschei­dung: Was 1681 im Kontext der Zeit noch als Schu­ld der Stadt galt, wird jetzt als Schi­cksal ausge­ge­ben. Aber selbst von solcher Warte aus betrachtet, fällt eine Gruppe von Texten scheinbar aus dem Raster heraus - die im Zusam­men­hang mit den Tür­kenkriegen ent­stan­de­nen Lieder. Obwohl näm­lich »der Türk« im Umfeld der Bela­gerung Wiens von 1683 noch mit dem Antichri­sten glei­chge­setzt wird,98 spri­cht man die von ihm be­herrschten Städ­te in Ungarn und auf dem Balkan dennoch angesichts ihrer Belage­rung durch christ­liche Truppen zu Beginn des achtzehnten Jahr­hunderts als jung­fräulich an. Nun könnte man ihre unschuldi­ge Eroberung durch die Türken hier ins Treffen führen; doch dem würde dann die Ambivalenz der Gesamtkonzeption widersprechen. Denn ganz offen­sichtlich ent­lehn­te man beispielsweise für das Bel­grad-Lied Prinz Eugenius und Belgarad99 aus dem Jahr 1717 lediglich die äußere Form eines früheren Liedes: In ähn­li­cher Kon­stellation wie Tilly 1632 um­wirbt Prinz Eugen in einem Lied von 1708 die franzö­sische Stadt Lille zunächst als »herzal­ler­liebster Schatz«, um sie dann als »lose[­s] Weib« zu be­schimpfen.100 1815 läßt man dann übrigens den öster­rei­chi­schen Erzher­zog Jo­hann in gleicher Weise der Stadt Hünin­gen gegenüber­treten.101 Alle drei Texte stim­men in Auf­bau und For­mu­lie­rung bis ins De­tail überein­; man adap­tierte sie je­weils nur durch den Aus­tausch der Städte- und Län­dernamen. Nun kann aber von einer prinzi­piel­len Über­ein­stim­mung der Aus­gangssi­tua­tionen - etwa einer Gleich­artigkeit des Kon­fliktes - nicht insofern die Rede sein, als daß sie eine der­artige Kon­gruenz motiviert haben könn­te. Viel­mehr scheint man sich beider Bilder, Schatz und Dirne, in der Form rhetorischer Versatzstüc­ke be­dient zu haben. Sieht man also genau­er hin, erkennt man deut­lich jene zeitbedingten Säku­la­ri­sie­rungsmo­men­te, von denen bereits wiederholt ge­sprochen wurde. Damit zeigt sich aber am Bild der Hure noch wesent­lich deutli­cher als an dem der Jungfrau die Abhängigkeit seiner Aus­sage vom Ausmaß der religiö­sen Be­stimmtheit des Zeitgeistes bzw. des einzelnen Dichters. Inner­halb solchen Rahmens sind städti­sche Jung­frau, Braut, Magd, Ma­donna, Hure und Metze un­trennbar mit­ein­ander zu einer Sinn-Ein­heit ver­floch­ten: Es gibt keine Jung­frau ohne Hure und keine Hure ohne Jung­frau. Von »Gleichför­mig­keit und Trivialität des Bildes von der als Frau ... imagi­nier­ten Stadt« und von - beliebig einsetzbaren? - »Varia­tions­mög­lichkeiten, die der Vergleich von Stadt und Frau bereit­hält­«,102 kann demnach mit Rücksicht auf die dargelegte Ge­bundenheit nur sehr bedingt gesprochen werden. Die zuweilen pole­misch be­stimm­te Durch­läs­sig­keit der Bilder gegen einander - Weigel spri­cht von der »Spannung ambiva­lente[r] Frau­enbilder«103 - ergibt sich dabei einzig aus dem Ge­sichts­punkt einer nicht ak­zep­tier­ten gei­stig-religiös-morali­schen Souveräni­tät, die sich in ihrer Indi­vidua­li­tät von der tradier­ten Norm absetzt und damit als Bedro­hung etablierter Besitzstände gese­hen - und als solche bekämpft wird. In dieser Funk­tion läßt sich das Bild der Hure schließlich auch in anderen Berei­chen deutschsprachiger Lite­ratur beobachten - die Projektion auf die Stadt stellt hier­von lediglich eine Va­riante dar.  

 

 

IV.

 

 

»Nur hohn und mitleid steigt zur mutterstadt/ Am felsen droben die mit schwarzen mauern verarmt daliegt × vergessen von der Zeit.// ... Sie spürt kein leid × sie weiss der tag bricht an:/ Da schleppt sich aus den üppigen palästen/ den berg hinan von flehenden ein zug: ...«

                                                                                                        Stefan George: Die tote Stadt.

   

    In der Gegenwart etwa findet die Apostrophierung als Hure in der oben defi­nier­ten Funktion Ein­gang selbst in jene Sprache der Unter­hal­tungsliter­at­ur, die durch­schnittliche All­täg­lich­keit zu sugge­rieren sucht und dadurch im Grunde genommen jene Art von Sprache zum Teil erst zu schaffen hilft: Ein in seiner Eitelkeit ge­kränkter Mann be­schimpft die daran 'schuldi­ge' Frau als Nutte, als Schlampe oder gar als Hure; eine Frau verleiht sich den Status der Rechtmäßigkeit, indem sie die un­lieb­same Nebenbuh­lerin - die Ehefrau, die neue Freun­din - in der Identifika­tion mit den ge­nannten Bezeichnungen als unlautere Konkurrenz abqua­lifi­ziert. An einen biblischen Bezug denkt dabei wohl kaum noch jemand. Dennoch ist er unterschwellig präsent. Und obwohl wir uns mit diesem Exkurs zunächst ab­seits der Verweiblichung von Städten bewegen, so ist er doch dazu ge­eig­net, wesent­liche for­ma­le Merk­male jener eingangs behaupteten religiös be­dingten Stadtallego­risie­rung zu ver­deut­li­chen. Zum Einen setzt der unter Um­ständen reduk­tiv-interpre­tierende Neueinsatz des Bildes nicht unbedingt ein be­wußtes Studium der biblischen Ur-Quelle voraus. Es genügt eigentlich jene globale Verinnerli­chung der Konstel­lation, die sich durch eine gewisse interpretations-fähi­ge Un­schärfe auszeich­net; eben jene ver­schwom­men-unterschwellige Kenntnis der Apokalyp­se und ihrer - durch die Kirche kano­nisier­ten - Botschaft, die in einer chris­tlich ge­prägten Kultur dem Einzel­nen zu Gebote steht, der in christli­chem Sinne erzogen wurde. Und dies gilt glei­cherma­ßen für Autor wie Publikum. Zum Anderen geht es um die Re­zeption von Struk­tu­ren; und zum Dritten um eine Verselb­stän­digung von De­tails die­ser Struk­turen. Legt man etwa Jüngers zweigeteilten Stadtstaat Eumeswil104 an die Ge­genbilder Himm­lisches Jerusalem und Babylon an, so erkennt man in der Gegen­über­stell­ung von frau­enlos-gei­stigem Burgberg und tiefer gele­gener, pulsierender Lagunenstadt deren Pendant. Ver­gleich­bares gilt für die oben zitierten Verse aus Stefan Georges Ge­dicht Die tote Stadt.105 Gleichzeitig aber machen die beiden Beispiele deutlich, daß die Verweibli­chung der Stadt neben der expliziten Personi­fizierung als Jung­frau und als Hure auch in einer attri­butiven Zuordnung weibli­cher Ele­mente beste­hen kann, wie bei Jünger. Es ließe sich nun darüber philosophie­ren, ob dieser Umstand auf unterschiedli­che Rezep­tionswege zurückzufüh­ren sei: Personifi­zierung etwa bei direk­tem Apokalyp­sebezug, Attributierung als Ergeb­nis des Um­weges über Augustins Zweistaa­ten-Modell. Doch soll es in der vorlie­genden Untersu­chung weni­ger um die präzise Ortung eindeu­tiger Quellen gehen; sondern um das Sichtbarmachen litera­ri­scher Struktu­ren, die auf der in einem Kulturkreis allgemei­nen Kennt­nis des Aussagewer­tes eben dieser Quellen beruhen - zumal diese alle in einem linearen Rezeptions-Zusammenhang ste­hen. Des­halb soll hier auch nicht einer gezielten auktorialen Umset­zung chri­stlicher Lehre 'als' christlicher Lehre das Wort ge­spro­chen wer­den; das anzuneh­men, ginge wohl in Richtung einer Überinter­pre­ta­tion. Das Ver­haf­tet­sein in die daraus resul­tieren­den Denkstruk­tu­ren, ohne dabei notwen­diger Weise bewußt deren Her­kunft zu re­flek­tieren, gilt es aufzuzeigen. Einzig für Werke jüdi­scher Auto­ren muß wohl eine Be­schränkung auf - aus christli­cher Sicht - alttesta­menta­rische Bezugspunk­te angenom­men wer­den.

    Wie macht sich nun aber die Rezeption besagter Strukturen kennt­lich? Betrachten wir kurz die utopischen Städte in der deutsch­sprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier wird die Position des bräutlich-himmlischen Jerusalem von dem abstrak­ten Konstrukt der Stadt als gei­stigem Prin­zip eingenom­men. Man denke nur an Curt Hohoffs ver­botene Stadt106, die von einer profan-materialistischen Stadt umschlossen wird; sie wie­derum erinnert an das babylonische Konzept. Überhaupt gilt für die in Frage kommenden Utopien das Prinzip der Ab­straktion; denn auch die be­reits ange­sprochene Attributie­rung des Weibli­chen gehört hier­her. Die Umsetzung des globalen spiri­tuellen Gehalts der bibli­schen Bil­der steht im Vordergrund. Die utopische Kom­ponente eines histo­risch-humani­stischen Stadt-Gemein­schafts-Konzeptes steht gegen die, wenn man so will, reale Kompo­nente der zeit­spezifisch-mo­dernen Groß­stadtge­sellschaft. Ihr kommt vorzüglich kontrastive, nicht aber ei­genständige Funktion zu. Die sinnlich-greifbaren Details der Ver­bildli­chung jenes spiri­tu­el­len Ge­halts - darunter die Perso­nifi­kation der beiden Städte Babylon und Jeru­salem - mach­te im Ge­gensatz dazu vor allem jene Dich­tung litera­risch fruc­htbar, der es um Deutung von Gegeben­heiten unter Vermeidung breit angelegter utopisch-didaktischer Kom­ponenten geht: seien es nun soziale Ge­sichts­punk­te, welt­an­schau­lichkult­urelle oder aber ganz indi­vi­duelle Be­findlich­kei­ten, die sich aus den Zeitum­ständen erge­ben. So können in Zei­ten ver­stärk­ter religiö­ser Orientie­rung - oder im Werk eines religi­ös ge­prägten bzw. inter­essierten Dich­ters, und sei es nur in dessen Ausein­ander­set­zung mit der christlichen Religion, die in deren Ableh­nung endet - auch Bilder in jener Be­deu­tung vermeint­lich 'wie­derkeh­ren', die sie be­reits früher einmal in ver­gle­ich­barer Weise inne­gehabt haben - wie etwa die 'feind­li­che' Stadt als Hure. 'Vermeintlich' des­halb, weil - der ein­gangs aufge­stellten These folgend - dabei keineswegs die Re­zep­tion frü­he­rer litera­rischer Zeugnisse invol­viert sein muß - ob­schon sie natür­lich nicht grund­sätzlich aus­zu­schließen ist. In diesem Sinne sollte man wohl auch nicht die Stadtjungfrauen des Dreißigjäh­rigen Krieges zwingend als »direk­te Vorläufer für den Bildge­brauch Ernst Jün­gers« namhaft machen, wie Weigel dies tut - mit Bezug auf den Ver­merk in Jüngers Pa­riser Tagebuch, nach dem Städte weiblich seien und »nur dem Sieger hold«;107 ganz abgese­hen davon, daß die Aussage zu wenig differenziert erscheint. Die we­sentli­cheren Fak­toren sol­cher Par­alle­len dürften eben eher in der sozialen Be­deu­tung der Bildquell­e und, dar­über hinaus, in einer ähnli­chen Sicht der histo­ri­schen Situa­tion zu su­chen sein. Sie akti­viert dann jene reli­giösbild­li­che Prägung im Bewußt­sein des Menschen. Ange­sichts solch po­stu­lier­ten Zu­sam­menwirkens von Ausgangsbedin­gungen sei nur an Al­fred Döblins Roman Ber­lin Alex­ander­platz erinnert. In explizi­ter Deut­lich­keit spri­cht er von der Stadt als »großer Hure«. Seine Hand­lung kreist um Franz Biber­kopf und um die Ver­letzungen, die diesem in der Groß­stadt Berlin zugefügt werden - oder werden sie ihm in der Inter­preta­tion des auktoria­len Be­wußtseins durch die Stadt zugefügt? Soll­te dem so sein, materia­lisierte sich 'Feind­lich­keit' nämlich einmal mehr im Bild der Stadt-Hure - auch wenn dies unter ver­änder­ten Vorzei­chen ge­schähe: Nicht mehr das Kollektiv eines Staates oder einer reli­gi­öswelt­lichen Herr­schaftsform stünde gegen die Sta­dt, son­dern das als schutzlos gezeichnete Indivi­duum; nicht mehr um die Bedrohung von Machtinteressen ginge es, sondern um exi­sten­tiel­le Bedro­hung. Erst als sich Franz Biber­kopf dem Tode nah in die Stadt-Gesellschaft zu integrieren be­ginnt, reitet die Hure Babylon auf ihrem scharlachroten Tier davon und läßt von ihm ab108: »Er steht nicht mehr allein am Alex­ander­platz. Es sind welche rechts von ihm und links von ihm, und vor ihm gehen welche, und hinten gehen welche«.109 'Feind­lich­keit' der Stadt bedeutet in Döblins Roman - und nicht nur dort - tat­säch­lich Men­schenfeind­lichkeit des großstäd­tisch-pro­leta­ri­sierten Le­bensraums zu Be­ginn des zwan­zigsten Jahr­hun­d­erts. Die Kon­stel­la­tion der 'feind­li­chen' Stadt er­scheint hier durch den Bezug auf das Indi­vidu­um gleich­sam pri­vati­siert. Indem dies aber ge­schieht, gibt der Text Zeug­nis vom ver­stärkten In­teresse sei­ner Zeit an Indi­vidua­lität. Zwar hat sich die städti­sche 'Feind­lich­keit' damit ver­schoben; die Kate­go­rien ihrer Bewertung sind dagegen diesel­ben geblieben. Der im bibli­schen Text als ein strukturelles Detail der Unmoral ange­führte Zug der Men­schenverach­tung prä­sentiert sich so in Dö­blins Roman als der eigent­liche Kno­tenpunkt des­sen, was man auch für das Ergeb­nis einer Rezeption überlieferter litera­ri­scher Zeug­nisse halten könnte.

    Behält man diese Möglichkeit der kulturell bedingten Par­alleli­tät im Auge, dann würden kon­sequenter Weise auch Diskus­sionen dar­über müßig, wel­che der euro­päischen Literaturen wohl die Stadtperson­ifizikatio­nen des soge­nannten deutschen Frühexp­ress­ionismus inspiriert haben mögen. Auftre­tende Ähnlichkei­ten zwi­schen den dichteri­schen Stadtbild­ern Heyms und denen Rim­bauds oder Baudelairs etwa müssen dann nicht mehr das Ergeb­nis bewuß­ter Rezep­tion und anschließender - sei es nun unbewußter oder geziel­ter - Dichtung im Stile von ... sein, auch wenn über­ein­stimmende Werktitel diesen Verdacht erregen mögen.110 Denn die vertiefende Rezeption eines bestimm­ten Schriftstellers be­darf nicht zuletzt eines Mindestmaßes an weltanschaulicher Überein­stim­mung, um in Gang zu kommen. Trotzdem kann einem in diesem Zu­sam­menhang nicht entge­hen, daß au­ßerhalb des zunächst vorran­gig behandelten kon­fessio­nell-krie­gerischen Kon­textes früherer Jahr­hunderte einzig die Babylo­ni­sche Hure mit ihrem Umfeld einen Platz in der Lite­ratur be­haup­tet, wenn es um die Verkör­perli­chung von Städ­ten geht. Auch Weigel übersieht diese Quelle nic­ht; auf deren domi­nant-prägende motivisch-ideel­le Im­pli­ka­tionen für den christ­lich-jüdischen Kulturkreis geht sie jedoch nicht ein: »Um nun der Frage nach­zugehen, warum die Ver­bin­dung von Frau und Stadt in der Litera­tur eine so ver­brei­tete und stabile Bild­lich­keit produziert hat, möchte ich einen Blick auf die Genealo­gie dieser Verbindung werfen, ... Den Erzäh­lungen von Apoka­lyp­sen, in deren Zusammenhang das Bild von der Hure Babylon auf­taucht, gehen andere Mythen voraus ...­«.111 Die jungfräu­liche Braut da­gegen fehlt bei­spielsweise in der deutsch­spra­chi­gen Literatur des zwan­zig­sten Jahrhunderts, sieht man davon ab, daß etwa das vordergrün­dige Ein­drin­gen in eine Stadt als Akt der Entjung­ferung offen­bar auf Dauer dem dichte­ri­schen Inventar zuge­führt worden ist. Doch wo mögen die Gründe für diese Selek­tion zu finden sein? Könn­te es mögli­cherweise daran liegen, daß das bi­bli­sche Bild von der »großen Hure« bereits einen höheren Grad an unmittel­barer Personi­fizie­rung auf­weist als das nur am Rande einge­führte der Braut? Und bietet es dar­über hinaus nicht ein breite­res Spektrum sinn­lich-ein­drin­g­licher Facetten? Oder ist einfach das darin zum Ausdruck kom­mende Ambi­valente der mensch­lichen Natur interessan­ter als das Gerad­linig-Eindeutige? Denn schließ­lich präsentieren Dichter des zwanzig­sten Jahrhun­derts nicht nur eine menschenfeindliche Stadt unter dem Bild der Hure, wie Döblin; auch besteht keine durchgängige Tendenz, »das Bild der Hure ... in apokalyptisch bewerteten Situationen, zur Kennzeichnung von und Warnung vor negativ emp­fundenen Ent­wick­lungen [zu] verwen­den«112 - dies galt noch am ehe­sten für die Polemik konfessionel­ler Auseinanderset­zung: Für das zwanzigste Jahrhundert bedeutet die baby­lonische Assozia­tion ebenso sehr die Anzie­hungs­kraft großstädti­schen Lebens, jenen Hauch von Ver­ruchtheit eben, der im bibli­schen Text opu­lent ausgestaltet ist. Und die Anziehung überwiegt hier bei weitem die Abstoßung. Etwa weil der Mensch darin seine ver­borge­nen Wünsche erkennt? Dies setzte aber vor­aus, daß sie ihm bewußt sind oder aber be­wußt gemacht worden sind - etwa durch neue revolutionäre Theo­rien, die großräumige und, vor allem, blei­bende Verbreitung gefunden haben, wie Sig­mund Freuds Lehre vom Einfluß des Unbe­wußten, von der Be­deutung der Kindheit für das spätere psychi­sche Leben oder von jener der Träume. »Die dunkle Sta­dt, sie schläft im Herzen mein/ Mit Glanz und Glut, mit qual­voll bunter Pracht«, heißt es bei­spielsweise bei Hof­mann­sthal;113 und von ihm weiß man, daß er sich intensiv mit Freuds Theorie des Unbewußten be­schäftig­te.114 Weigel bezieht sich in ihren Auf­sätzen vornehm­lich auf die Schr­iften Walter Benja­mins,­115 der seine Interpre­tationen zu städ­ti­scher Architektur in den zwanzi­ger und dreißi­ger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ver­faßte, also in quasi nach-freudiani­scher Zeit: Und er ver­steht die Stadt als Laby­rinth, das nur derjenige zu erkunden auszieht, den »tiefere Moti­ve« dazu bewe­gen: »Motive des­sen, der ins Vergan­gene statt ins Ferne reist«, wie er in einer Rezen­sion von Franz Hes­sels Buch Spazieren in Berlin schreibt.116 

    Einen deut­lichen Hin­weis darauf, daß der litera­rische Dis­kurs über städti­sche Archi­tektur - und im speziellen die Baby­lon-Konnotation - nun tatsächlich in gewisser Weise Kind­heits­erleb­nisse wider­spiegelt - und sie gleich­zeitig im Rezi­pienten wach­ruft - gibt Horst Bie­nek mit seinem Text Die Türme mei­ner Stad­t: Es war die Groß­tante Mil­ka, die dem Prota­go­nisten in seinen Kinder­tagen »nicht häufig genug aus der Bibel vorlesen konnte«; immer wieder wollte er über den Turm zu Babel hören, »dem Turm aller Türme, Alpha und Omega der Bau­kunst über­haupt«. Und »mit der Fan­tasie eines Kindes hoffte [er], diese un­endliche Entfernung mit ein paar Dutzend Bauklöt­zen überwinden zu können. Auch spä­ter hat diese Leiden­schaft niemals nachgelas­sen, im Spiel nicht und nicht im Eifer eines Schach­wettbewerbs, im Thea­ter nicht und nicht im Kino ...«.117 Was die literari­sche Figur hier be­schreibt, entspricht exakt jenen Über­legungen zur psycho­thera­peutischen Implikation der litera­rischen Archi­tektur­dars­tell­ung, die Ger­hardt Kapner auf der Grun­dlage von Romanen des zwan­zig­sten Jahrhunderts ent­wickelt: »Als Re­sultat kann nun­mehr hier die These der Belle­stri­stik vor­gelegt werden, daß >Empha­tie<, also die >Einfühlung< in Kunst, und sei es All­tags­kunst wie hier die All­tagsarchitek­tur, nicht bloß ein ober­fläch­licher Nachvoll­zug, sondern zu­gleich Regression ist, d. h. Reaktua­li­sierung frühe­rer, ja frü­hester emotionaler Situa­tio­nen, in denen der Rezi­pient Dinge - wie hier eine Stadt - noch zu anthropomor­phen, beseelten Wesen machte, fallweise sogar Identi­tät zwischen sich und ihnen erleb­te«.118 Kehren wir unter diesem Gesichts­punkt zum Prota­gonisten von Bieneks Text zurück, so mag man kaum an Zufall glauben, wenn diesem ausgerechnet im höchst­en Turm sei­ner Hei­mat­stadt ein 'babyloni­sches' Erleb­nis widerfährt: Er läßt sich von einer Frau ver­führen, in vol­ler Kenntnis dessen, daß sie die Geliebte eines ande­ren ist. Es dürfte also durch­aus be­rech­tigt sein, für das zwan­zig­ste Jahr­hun­dert in der Rezeption von Freuds Lehre den wohl ent­schei­den­den Anstoß zur inter­preta­tiv-abwei­chenden Lite­rari­sie­rung der Stadt im Kontext des baby­loni­schen Bildes zu sehen. Funk­tiona­li­sier­te man frü­her in er­ster Linie den Aspekt der Unter­gangsdrohung auf­grund der ver­anschau­lichten 'Unmo­ral', so wendet man sich nun dem gesam­ten Bild in all sei­nen - auch konnotativen - Facetten zu. Hatten etwa in der pole­mi­schen Dichtung des Drei­ßigjährigen Krieges die Details babylo­ni­scher Verworfen­heit sich der Gesamtaussage un­tergeord­net, so existie­ren sie nun sowohl im Zusammenspiel als auch eigenbe­rech­tigt - und darüber hinaus nicht mehr als absolu­te Wertigkei­ten. Man löste sie heraus: Das Detail ge­dieh zur Struk­tur, um in komple­xeren Bil­dern und Bezü­gen wie­der zu­sammen­gesetzt zu wer­den. Babylon hat somit seinen primär polari­sieren­den Sta­tus »der Stadt als der gro­ßen Ver­führe­rin, die der Macht und dem Geld mehr zugetan sei als der guten Idee bzw. der Idee vom Gu­ten«, wie Weigel es formu­liert, einge­büßt.119 Die Stadt als Hure steht nun neben der Stadt als Ort des Dämons; die Stadt als Mut­ter über­blendet sich mit der Stadt als Hure - sie be­schützt und bedroht zugleich. Und schlie­ßlich gibt es da noch den Stadt­gott, der eigentlich mehr Götze zu sein scheint. Doch damit hat sich glei­chzei­tig der Schritt von der Verweiblichung der Stadt zur Ver­kör­perlichung und zur generel­len Be-Le­bung der Stadt voll­zogen - und sei es nur in Form von Exponenten einer Welt, die im wei­test möglichen Sinn in Bezie­hung zur Vor­stellung von der Babylo­nischen Hure gesetzt werden kann. Daß Wei­gel den Über­gang zur Verkörperli­chung be­reits im neunzehnten Jahr­hun­dert ansetzt,120 stellt dazu kei­nen grund­sätzlichen Wi­der­spruch dar - höchstens eine qualita­tiv andere Sicht des Pro­blems. Denn die Verkörper­lichung der Stadt zu jener Zeit beruh­te - zumin­dest in der deut­schspra­chigen Lite­ratur - auf metapho­ri­scher Oberflä­chen-Ana­logisie­rung,121 wäh­rend nun subjektive Reali­tät und physische wie psychische Be­find­lichkeit in die Indivi­duali­tät einer Stadt gespiegelt wird und damit eine ver­kürzte Deutung erfährt - ver­gleichbar der Art, wie der Prota­go­nist in Paul Nizons Jahr der Liebe seine Sicht der Stadt Paris analysiert. »Die Stadt schien mir jetzt«, heißt es dort, »oft von einer gla­zia­len Schönheit, zum Erfrie­ren ab­wei­send; sie schien mir wohl deshalb so, weil ich meine Panik in sie hineinprojizierte, Star­re und Kälte waren der Re­flex meiner eigenen Verfassung: dieses Fremdseins«.122     

 

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