„Demokraten baden nackt“ (Jens Jessen, Die Zeit, 23.3.2006, Nr.13) (German)
Veronika Bernard
„Demokraten baden nackt“ (Jens Jessen, Die Zeit, 23.3.2006, Nr.13)
Erfolgt die Befreiung von innerem und äußerem Zwang in der Migration auf der Basis von Heterostereotypen?
Abstract
Am Beispiel von Texten deutsch-türkischer Autoren geht das Referat der Frage nach, innerhalb welcher Koordinaten die Befreiung von innerem und äußerem Zwang in der Migration literarisch relevant ist: als kreativer literarischer Impuls und als literarischer Kommentar zu gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb einer migrantischen Gemeinde.
Welche Rolle in diesem Zusammenhang stereotype Vorstellungen und Bilder des neuen kulturellen Umfeldes spielen und welche Bedeutung der individuellen Erfahrung der Herkunftskultur im Wechselspiel einer kulturellen Wahrnehmung zukommt, soll anhand der Themen Geschlechterzeichnung, Geschlechterbeziehung und Sexualität analysiert werden. Relevante Aspekte der analysierten Texte sind dabei Handlungsverlauf und Figurenzeichnung.
Erfolgt die Befreiung von innerem und äußerem Zwang in der Migration auf der Basis von Heterostereotypen?
„Demokraten baden nackt“ ist der griffig formulierte Titel einer Glosse von Jens Jessen in der „Zeit“, Nr. 13 vom 23.3.2006. Sie erschien dort mit dem Untertitel „Die Türken im Gesinnungstest“ und führt ins Zentrum der theoretischen Grundlagen dessen, was im vorliegenden Beitrag am Beispiel von deutschsprachigen literarischen Texten und Filmen, geschaffen von in Deutschland lebenden und arbeitenden Autoren und Regisseuren mit türkischem Herkunftshintergrund, wenn nicht ausführlich diskutiert, so doch gedanklich angerissen werden soll: nämlich die Frage, inwieweit die Orientierung an Heterostereotypen die Basis bildet für eine individuell empfundene Befreiung von innerem und äußerem Zwang in der Migration.
Jessen stellt in seiner Glosse in pointierend-ironischer Wortwahl den gedanklichen Zusammenhang her zwischen den in den Niederlanden und in einigen deutschen Bundesländern als sinnvoll erachteten Methoden, die Demokratietauglichkeit von einbürgerungswilligen Migranten zu überprüfen1, und zwei in den Jahren 2005-2006 in der Türkei durchgeführten Erhebungen zu türkischen Wertvorstellungen2, indem er die Ähnlichkeit der inhaltlichen Ausrichtung zwischen den Fragen der umstrittenen niederländischen und deutschen Einbürgerungsfragebögen und jener Fragen behauptet, mit denen man in den türkischen Umfragen versuchte einer entsprechend konservativen oder progressiven Grundhaltung der Befragten auf die Spur zu kommen.
Jessen schreibt:
Aus gegebenem Anlass möchten wir darauf hinweisen, dass die moderne Demokratie, von der stolzen Kultur des Abendlandes ganz zu schweigen, seinerzeit noch ohne Nacktbadestrände entstanden ist. Wir wollen damit nichts gegen das unschuldige Treiben der Nudisten einwenden. Aber die Meinungsumfragen, die jetzt in Istanbul zu Demokratiefähigkeit und Toleranz der Türken angestrengt wurden, könnten den Verdacht nähren, dass sich die Europatauglichkeit des Landes an der Nudistenfrage entscheiden müsse. Die Punkte, an denen sich die türkische Bevölkerung abarbeiten musste, erinnern nicht zufällig an die Gesinnungsfragen, mit denen die Niederlande oder manche deutsche Bundesländer die Integrationsfähigkeit von Einbürgerungswilligen testen wollen: Wie hältst du es mit berufstätigen Frauen, homosexuellen Nachbarn, nichtehelichen Lebensgemeinschaften, barbusigen Mädchen am Strand.
Und er fährt fort:
Das alles sind Fangfragen. Denn so wünschenswert die gelassene Toleranz gegenüber allen Erscheinungsformen dessen ist, was man im Westen einmal Selbstverwirklichung nannte, so unerheblich ist diese Gelassenheit für Demokratie und Rechtsstaat. Man wird, halten zu Gnaden, bei gutkatholischen Bayern oder Österreichern mühelos dieselbe Reserve gegenüber Karrierefrauen, offen ausgelebter Homosexualität oder Nacktheit in der Öffentlichkeit finden wie in allen traditionell und religiös geprägten Ländern. Das ist aber keine Gefahr für Staat und Freiheit der Gesellschaft. Unsympathisch oder sogar ärgerlich darf jeder finden, was er will. Entscheidend ist nicht die Toleranz der Herzen; es ist im Gegenteil geradezu ein Privileg des Rechtsstaates, auch atavistische Gefühlsregungen vor der erzieherischen Zudringlichkeit der Mehrheitsgesellschaft zu schützen. Man nennt es auch Meinungsfreiheit.
Und er gelangt zu der Schlussfolgerung:
Entscheidend ist vielmehr die Toleranz der Tat. Was sich im Herzen an Hässlichkeiten regt, muss privat und ohne öffentliche Folgen bleiben. Es ist vielleicht nicht überflüssig, in diesen Zeiten des eskalierenden Misstrauens und Gesinnungsschnüffelns an eine schlichte Maxime Friedrichs des Großen zu erinnern, der von seinen Untertanen wenig mehr verlangte, als Steuern zu zahlen und sich gegenseitig in Frieden zu lassen. Dieses Minimum, das der Absolutismus gewährte, sollte die Demokratie nicht unterschreiten. Was wir gegenwärtig erleben, ist aber die Forderung nach Übernahme des ganzen emanzipatorischen Wertekanons und folkloristischen Plunders der westlichen Lebensweise, und zwar nicht etwa passiv tolerierend, sondern mit dem Herzen. Eine solche Forderung ist jedoch keine Sache der Demokratie, sondern eine Erziehungsdiktatur. Wollen wir diese Diktatur? Wollen wir wirklich die dynamische Offenheit und in der Tat emanzipatorische Kraft unserer Gesellschaft einem autoritären Impuls opfern, der den Zeitgeist zum ewigen Maßstab für Wert und Würde des Bürgers erklärt?3
So weit Jessens Überlegungen. Betrachtet man aber die von Jessen angesprochenen türkischen Umfragen, so gewinnt man den Eindruck, dass offenbar diese europäische „erziehungsdiktatorische“ Forderung vielfach schon ohne entsprechende direkte Aufforderung, gleichsam in vorauseilendem Gehorsam, von jenen erfüllt wird, an die man sie in Europa richten zu müssen glaubt. Oder mit anderen Worten: Man passt sich im eigenen Selbstbild dem an, wovon man meint, dass der Europäer es von einem erwartet, und man tut dies offenbar auf der Grundlage der eigenen stereotypisierenden Fremd-Wahrnehmung Europas, die indirekt in der Definition von Konservativismus in einzelnen migrantischen Herkunftsländern gespiegelt wird. Die in den oben erwähnten türkischen Umfragen zur Anwendung gekommenen, und zum Teil in Europa bzw. den USA erarbeiteten, Fragenkataloge sind hierfür nur Beispiele unter vielen. Weitere sind etwa jene zahlreichen Fotos libanesischer Bikinimädchen, die der Autorin des vorliegenden Beitrages im Rahmen eines von ihr geleiteten Ausstellungsprojektes4 von libanesischen Studenten als potentielle Exponate zugeschickt wurden. In dem Projekt geht es unter anderem um orientalische Selbst-Wahrnehmung sowie um die orientalische Fremd-Wahrnehmung und Stereotypisierung Europas, und alle entsprechenden Fotos waren unterlegt mit dem erläuternden Hinweis, man sei – entgegen der stereotypisierenden europäischen Annahme – auch im Libanon offen, fortschrittlich und tolerant.
Im Umkehrschluss heißt dies: Offen, fortschrittlich und tolerant sein, wird gleichgesetzt mit europäisch sein, europäisch sein aber wird gleichgesetzt mit nackter Haut, insbesondere nackter weiblicher Haut in der Öffentlichkeit, mit einer umfassenden öffentlichen Sexualisierung des Alltags.
An denjenigen, die vor dem Hintergrund dieser Heterostereotypisierung Europas nach Europa migrieren, lässt sich beobachten, dass sie sich gleich mehrfach an derlei Stereotypen abarbeiten:
Zum einen lassen die Stereotype Europa als Ort der unbegrenzten Freizügigkeit und Freiheit erscheinen, die man auch für sich selbst vor dem Hintergrund der im Herkunftsland oder an anderen Stationen der eigenen Migration erfahrenen gesellschaftlichen Normen als wünschens- und erstrebenswert definiert und deren militanter, nahezu konvertitisch anmutender/e Verfechter/in man wird, wie es etwa an der bis vor kurzem in den Niederlanden lebenden Ayaan Hirsi Ali zu beobachten ist.
Zum anderen lassen die Stereotype Europa als ein aus Sicht der Herkunftskultur gegen jede Logik politisch, technologisch, bildungsmäßig und wirtschaftlich erfolgreiches, a-moralisches gesellschaftliches System erscheinen, das man im Interesse des eigenen Überlebens erträgt. Als illustrierendes literarisches Beispiel kann hier Selim Özdoğans „Opferfest“-Text gelten, der die Geschichte einer mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Opferfest-Vorbereitung einer in Deutschland lebenden Familie durch den Onkel des Erzählers fiktionalisiert. Zwar gelingt es diesem ein Schaf zu beschaffen, durch den Umstand aber, dass aufgrund des deutschen Umfeldes das Schaf im Geheimen geschächtet werden muss, geraten die Vorbereitungen zum Fiasko: Der Onkel muss das Schaf gegen alle Regeln seiner Religion in unwürdiger Weise in einer Badewanne schlachten und sieht sich außerstande den Körper des Tieres ordnungsgemäß zu zerlegen. Angesichts solcher Frustration entlädt sich seine Verachtung der deutschen Kultur in einer den Familienmitgliedern geläufigen Schimpftirade, die jedes Mal damit endet, dass er seinen Aufenthalt in Deutschland mit der dortigen guten medizinischen Versorgung rechtfertigt: „Ein oder zwei Jahre später fiel das Opferfest nicht in die Ferienzeit“, leitet der jugendliche Erzähler des Textes seine Schilderung der Ereignisse ein. „Wir verbrachten es im Land der Ungläubigen, wie mein Onkel immer sagte, im Land der starren Regeln, wo nicht vor jedem Opferfest auf den Märkten ganze Schafherden zum Verkauf angeboten wurden, in einem Land, in dem es einem rechtschaffenen Mann verboten war, ein Lamm zu opfern, wenn er nicht vorher acht Semester studiert oder drei Jahre eine Ausbildung gemacht hatte, in einem Land, in dem nie die Sonne schien.“5 Und er endet:
Das Fluchen und Sägen aus dem Bad dauerte bis in den frühen Abend, und meine Mutter und meine Tante schmierten uns Brote, weil wir es nicht mehr aushielten vor Hunger.
Als mein Onkel schließlich blutverschmiert aus dem Badezimmer kam, warf ich einen Blick hinein und sah, dass er das Lamm nicht zerlegt hatte. Er hatte es zerstückelt. Da war ein verwirrender Haufen Knochen und Fleisch und Fett und Blut, die Innereien hatte er in einen Wäschekorb gelegt, und es stank ganz entsetzlich. Als hätte er zudem noch das Klo verstopft bei dem Versuch, die Gedärme runterzuspülen.
Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, bis ich danach wieder Fleisch gegessen habe. …
Mein Onkel und meine Tante sind später in ein Hochhaus mit Wannenbad gezogen, und mittlerweile ist es möglich, im Land der Ungläubigen ganz offiziell Schafe zu schächten.
– Aber du darfst nicht mal auf deinem eigenen Balkon grillen, da kommt sofort die Feuerwehr und berechnet dir 2000 Mark für den Großeinsatz, schimpft mein Onkel heutzutage. Und wenn er sich wieder beruhigt hat, muß man sich die Geschichte mit den hervorragenden Ärzten und seinem Magen noch mal anhören.6
Und zum dritten lassen jene Heterostereotypisierungen die migrantische Erfahrung des europäischen Alltags – dem zugrunde liegenden Mechanismus von Stereotypisierungen folgend – vielfach zum Fall einer selektiven Wahrnehmung werden, je nach Standort des Migranten unterschiedlich fokussiert, an der man sich abermals abarbeitet: sei es um sich ihr im eigenen Verhalten, das man schmerzhaft als den europäischen Gepflogenheiten nicht entsprechend wahrnimmt, anzupassen, weil man europäisch, fortschrittlich und modern sein möchte, sei es um sich im eigenen Verhalten bewusst davon abzugrenzen.
Der Versuch sich eine individuelle migrantische Identität zu schaffen, stellt das Ergebnis dieses „Abarbeitens“ an europäischen Heterostereotypen dar. Denn selbst die Ablehnung bedeutet die Anerkennung, indem man nämlich das Heterostereotyp von Europa durch die Auseinandersetzung mit ihm als das Bild von Europa zur Kenntnis nimmt.
Exakt dieser Mechanismus der Schaffung einer migrantischen Identität lässt sich in jenen deutschsprachigen literarischen Texte und Filmen orten, die von in Deutschland lebenden und arbeitenden Autoren und Regisseuren mit türkischem Herkunftshintergrund geschaffen werden.
Zum Teil lassen sich diese Mechanismen durchaus unter dem Aspekt Befreiung von innerem und äußerem Zwang im Sinne eines kreativen Tabubruchs abhandeln, wie es in den Texten von Emine Sevgi Özdamar der Fall ist, die sich auf diese Weise thematisch und auch motivisch-stilistisch in die Reihe europäischer Frauenliteratur einordnen, zum Teil verkörpern sie aber auch kritische Kommentare zu einer als fehlgeleitet bis dekadent oder einfach als fremd gesehenen Gesellschaft des Migrationslandes, in dem man in erster, zweiter oder auch dritter Generation lebt, wie im Falle des Programms der „Kanak-Attack“-Gruppierung7 um Feridun Zaimoğlu und dessen Texten8, und der sich anzugleichen, in dem, was man als ihre erstrebenswerten Freiheiten und Werte wahrzunehmen glaubt, in der persönlichen Sackgasse endet, wie es der Handlungsverlauf von Fatih Akıns Film „Gegen die Wand“9 für die beiden Protagonisten nahe legt, dort ergänzt wie in Zaimoğlus Texten um den ironisierenden Blick auf manche Traditionen der Herkunftskultur.
Was man innerhalb dieser Koordinaten an deutsch-türkischen literarischen Texten und Filmen wahrnimmt, ist eine deutliche Fokussierung auf Themen wie Sexualität, Geschlechterbeziehung, Drogenkonsum und gesellschaftliche Marginalisierung innerhalb und außerhalb der migrantischen Gemeinde, egal ob bewusst forciert oder von außen auferlegt.
In dieser thematischen Ausrichtung – soweit sie Sexualität, Geschlechterbeziehungen und Drogenkonsum betrifft – mag zu einem wesentlichen Teil die zur Diskussion gestellte Befreiung von innerem und äußerem Zwang durch den zumindest teilweisen Wegfall der Verankerung in den gesellschaftlichen Konventionen der Herkunftskultur reflektiert sein, und sie mag so zum Ausdruck einer als progressiv definierten Haltung werden. Bezieht man allerdings den Umstand mit ein, dass die differenzierende Literarisierung derselben Thematiken als Werkzeug einer individualisierenden Charakterzeichnung sich durchaus als integrale Aspekte von als gesellschaftlich engagiert bis avantgardistisch wahrgenommenen Literaturen des Herkunftslandes finden – als Beispiele seien nur die Romane der türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk und Ahmet Ümit erwähnt – , aber dort keineswegs jene prominente Position innehaben wie in migrantischen Texten, so schließt sich der Kreis wieder über das Bindeglied der europäischen Heterostereotypisierung, auf deren Grundlage man Progressivität definiert, und die Bedeutung des Migrationsfaktors in der Wahl der genannten Thematiken verschiebt sich von einem Faktor der Qualität zu einem der Quantität.
In der Auseinandersetzung mit der Thematik der gesellschaftlichen Marginalisierung aufgrund eines nicht den öffentlich gelebten Konventionen der migrantischen Herkunftsgemeinde entsprechenden Lebensstils im Bereich der Sexualität, Geschlechterbeziehung und des Drogenkonsums, wie sie in Akıns Film begegnet, manifestiert sich der migrantische Faktor in der kreativ gestalteten Diskussion der Auswirkungen eines solchen Verhaltens im Kontext einer Diasporagesellschaft: in Akıns Film ist es der Suizidversuch der Protagonisten und das Scheitern des selbst definierten Lebenskonzeptes, versinnbildlicht darin, dass die Charaktere sich am Ende des Films an einem Ort und in einer Situation befinden, die sie für sich stets ausgeschlossen hatten. Die Protagonistin lebt mit festem Partner und Kind in Istanbul, der Protagonist verlässt Deutschland und möchte in Mersin, der südtürkischen Herkunftsstadt seiner Familie, den Neubeginn versuchen.
Die Literarisierung von Sexualität und Geschlechterbeziehungen in deutsch-türkischen Texten lässt sich zwei Perspektiven zuordnen. In Emine Sevgi Özdamars Texten „Seltsame Sterne starren zur Erde“10 und „Die Brücke vom Goldenen Horn“11 beispielsweise erfolgt sie aus einer von der Protagonistin als notwendig betrachteten Position der Anpassung an das stereotypisiert Europäische. Sie kreist einerseits um das Bestreben der Protagonistin im Alter zwischen 17 und 18 ihre Entjungferung zu bewerkstelligen, um sich zum vollwertigen Mitglied der (aufgeklärten, avandgardistischen und künstlerisch kreativen) Erwachsenengesellschaft zu machen, und um ihre spätere intellektuelle Auseinandersetzung mit dem von ihr im Vergleich zu der in ihrer Berliner Wohngemeinschaft gelebten Sexualität der studentischen 68er Generation als konservativ und rückständig eingestuften eigenen Sexualverhaltens, das sie trotz der als sexuell sehr frustrierend empfundenen Trennung von ihrem Lebenspartner daran hindert, eine Beziehung zu einem ihrer verheirateten deutschen Kollegen einzugehen.
Im Gegensatz dazu steht in Zaimoğlus Texten „Liebesmale. Scharlachrot“ und „German Amok“ sowie in Selim Özdoğans Text „Mehr“12 die migrantische Wahrnehmung der individuellen kulturellen Position in ihrem Bestreben nach kultureller Individualität im Zentrum. Die migrantische Identitätssuche spiegelt sich hier in der Beziehung des männlichen migrantischen Protagonisten zu einer oder mehreren deutschen Frauen und in Zaimoğlus Text „Liebesmale. Scharlachrot“ und Özdoğans Text „Mehr“ in der Beziehung zu jeweils einer türkischen Frau. Während die deutschen Frauen über die Zeichnung entsprechend eines Heterostereotyps des Europäischen (unweiblich, karrieresüchtig, zu intellektuell, zu verstandesbetont) der Desillusionierung des migrantischen Protagonisten bezüglich seines migrantischen Daseins im Sinne von „nicht Fisch nicht Fleisch“ zugeordnet werden, steht die jeweilige türkische Frau zunächst für Heilung, Verstehen, kulturelle Identität und Heimat. Die Beziehung zu ihr bleibt aber – wie es der literarisierten migrantischen Situation entspricht – im Bereich des Wunschbesetzten, des Idealen und des nicht in der migrantischen Realität Verankerten, und führt zu keinem nachhaltigen Ergebnis. Während Zaimoğlus Text „Liebesmale. Scharlachrot“ in dieser Position verharrt – der Protagonist kehrt am Ende seines Türkeiaufenthaltes nach Deutschland zurück, der weitere Verlauf der in der Türkei angeknüpften Beziehung bleibt auf der Basis eines verklärt-leidenschaftlichen Liebesbriefes an die zurückgelassene Wunschfrau offen – löst in Özdoğans Text die Beziehung in Übereinstimmung mit dem programmatischen Titel „Mehr“ den beziehungsmäßigen, und damit kulturellen, Totalverlust aus: verursacht durch den Wunsch nach einem „Mehr“ an authentischer und individueller migrantischer Identität wird der Protagonist von beiden Frauen trotz Versöhnungsversuchen verlassen. Die verbleibende Option für beide männlichen Protagonisten ist die kulturelle Neudefinition der eigenen Identität im Verständnis einer weder am Europäischen noch am Herkunftskulturellen, oder aber, an beidem orientierten migrantischen Individualität.
Wenden wir vor diesem Hintergrund abschließend nochmals den Blick von der Literatur zu den Heterostereotypisierungen Europas, die den Bestrebungen nach kreativer migrantischer Individualität und Identität als offenbarer Ausgangpunkt dienen, und stellen wir die Frage zur Diskussion, inwieweit die Heterostereotypisierung Europas mit der europäischen Autostereotypisierung einerseits und einer individuellen Selbstwahrnehmung europäischer Bürger/innen, wie sie in Jens Jessens Glosse zur Sprache kommt, übereinstimmt. Zieht man etwa den 2007 von der EU Kommission unter dem Label „Liebe“ auf You Tube gestellten Kurzwerbefilm für den europäischen Film heran, der einzig Sex-Szenen aus prämierten europäischen Filmproduktionen zusammenmontiert und als Kurzfilm präsentiert, mit dem Titel „Let’s come together“, oder die bereits eingangs indirekt erwähnten, von der 2006 noch im Amt befindlichen niederländischen Einwanderungsministerin Rita Verdonk als Demokratieschulungsvideos für Migranten geplanten Videoclips von homosexuellen Paaren und Nacktbadenden, dann legt dies die Vermutung nahe, dass Hetero- und Autostereotyp deckungsgleich seien. Berücksichtigt man dagegen den eingangs zitierten Zeitungsartikel oder die Reaktionen politisch traditioneller Kreise in Europa auf den EU-Werbefilm als Gradmesser,13 so präsentiert sich statt einer Übereinstimmung von europäischem Hetero- und Autostereotyp die Differenziertheit europäischer gesellschaftlicher Realität.
Indem sich die in literarischen Werken gespiegelte migrantische Identitätsschaffung aber im Sinne eines Aktes der kreativen Befreiung von inneren und äußeren Zwängen weniger an europäischer Differenziertheit als mehr an dem in gewisser Weise auch von europäischer Politik bedienten europäischen Heterostereotyps zu orientieren scheint, ersetzt jene Identitätsfindung eigentlich die als Zwänge der Herkunftsgesellschaft empfundenen Konventionen durch neue, nun aber eben europäische gesellschaftliche Zwänge.
Anmerkungen