Literatur des Überlebens (German)

Veronika Bernard

 

 

Literatur des Überlebens.

Deutschsprachige Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945.

Überlegungen zu ihrem Potential für den Deutschunterricht

der Sekundarstufe II

 

 

Der vorliegende Beitrag geht zurück auf ein im April 2000 für das Pädagogische Institut des Landes Tirol abgehaltenes Fortbildungs-Seminar (Zielgruppe: Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer an Allgemeinbildenden Höheren Schulen und Berufsbildenden Mittleren und Höheren Schulen). Voraus ging diesem im Wintersemester 1999-2000 ein literaturwissenschaftliches Proseminar der Verfasserin für 2- bis 4-semestrige Germanistikstudentinnen und -studenten an der Universität Innsbruck. Die Gruppe der dort behandelten Autorinnen und Autoren wurde für die Fortbildungs-Veranstaltung erweitert. Die Zielsetzung bestand darin, den Kolleginnen und Kollegen aus dem AHS- und BMHS-Bereich sowohl einen ansatzweisen Überblick zu geben über Autorinnen und Autoren, die sich durch die Eigenart ihrer Werke für den Schulunterricht anbieten, als auch das Potential aufzuzeigen, das die nach 1945 entstandene deutschsprachige Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren bereithält. Die Formulierung des dort Besprochenen als Beitrag für "ide" eröffnet in diesem Sinne die willkommene Gelegenheit, einen noch größeren Kreis an Interessierten zu erreichen.

      

 

1. Jüdische Autorinnen und Autoren nach 1945 und ihre Texte

 

Das aktuelle "ide"-Heft widmet sich in seinem allgemeinen Teil vorzüglich jüdischen Autorinnen und Autoren österreichischer Provinienz. Der vorliegende Beitrag dagegen baut auf der Kenntnis von Texten auf, die überwiegend von nicht-österreichischen Autorinnen und Autoren stammen. Es erweist sich somit als unumgänglich, den didaktischen Überlegungen einen entsprechenden Abschnitt zu Personen und Werken vorzuschalten. Die dabei gewählte Reihenfolge ist nicht beliebig, sie folgt einem am Schwierigkeitsgrad - d. h. an dem Ausmaß des für ein angemessenes Verständnis nötigen kulturellen Vorwissens - der publizierten Texte orientierten aufbauenden Prinzip.

  Als erste Autorin von Interesse gilt es demnach Angelika Schrobsdorff vorzustellen. Die heute in Jerusalem lebende Verfasserin von Romanen und längeren Erzählungen wurde 1927 als Tochter eines deutsch-stäm­migen Vaters und einer jüdischen Mutter in Freiburg im Breisgau geboren. Vor dem Zugriff der Nationalsozialisten mit ihrer Mutter aus Berlin nach Bulgarien geflohen, verbrachte sie dort die zentralen Jahre ihrer Kindheit und Jugend. Später lebte sie in Frank­reich, kehrte nach Ende des Zweiten Weltkrieges zeitweise nach Deutsch­land zurück, bevor sie vor einigen Jahren nach Jerusalem übersiedelte - in ein Haus, das exakt auf der Demarka­tionslinie zwischen dem palästinensischen Ostteil und dem jüdi­schen Westteil der Stadt liegt. In ihrem mittlerweile in mehreren Auflagen erschienenen Buch "Das Haus im Nie­mandsland" lite­rarisiert sie die Problematik und die Implikatio­nen dieser Woh­nungsnahme in ihrer Wahl-Heimat Israel, in der sie zunächst - wie sie in einem Interview mit dem DTV-Verlag berichtet - hauptsächlich in Emigranten-Kreisen verkehrt hatte.1

  Ein wesentlicher Grund für die hohen Auflagen (und den regen Absatz) von Schrobsdorffs inhaltlich aus der eigenen Biographie schöpfenden Büchern dürfte in der einfachen, geradlinigen Sprache und Erzählweise liegen. Von dieser Warte aus betrachtet, könnte man alle derzeit erhältlichen Texte2 der Autorin in einen schulischen Kontext integrieren. Gegen einen solchen Schritt spricht allerdings die doch beträchtliche Länge einiger Texte,3 die bei vielen Schülern zu Abwehr-Reaktionen führen könnte.

  Nicht zuletzt ausgehend von dieser Überlegung seien zwei Bücher von ca. 100-200 Seiten Länge herausgegriffen, die gleichzeitig zwei der Haupt-Thematiken in Schrobsdorffs Oeuvre markieren: Die "Reise nach Sofia" und "Jericho. Eine Liebesgeschichte". Beide der um (individuelle) Vergangenheits-Bewältigung und Identitätssuche kreisenden Bücher präsentieren sich als Ich-Erzählungen einer weiblichen Protagonistin namens Angelika Schrobsdorff, die in der "Reise nach Sofia" in Paris lebt, während sie sich in "Jericho" zunächst kurzzeitig und dann ständig in Israel aufhält.

  Die Handlungen der Bücher sind rasch umrissen. In der aus drei mehr oder weniger selbständigen Erzähl-Abschnitten bestehenden "Reise nach Sofia" beschließt die Protagonistin, ihre Freundin aus Kindertagen in dem nach wie vor kommunistischen Bulgarien zu besuchen. Sie reist im Winter, ist zahlreichen - ironisch kommentierten - Pannen ausgesetzt, gelangt aber letztlich doch nach Sofia, wo sie einige Zeit mit ihrer Freundin in deren Wohnung verbringt. Dass es dort stets recht turbulent, um nicht zu sagen: chaotisch, zugeht, stört das Wiedersehen nicht wirklich, und die Freundin offenbart Angelika schließlich den Wunsch zu einem Gegenbesuch im "Westen", in Paris. Diesem widmet sich der dritte Teil des Buches: betitelt "Der westliche Schock". Im westlichen Umfeld kommt es beinahe zum Bruch der Freundschaft, eingedenk der gemeinsamen Erfahrungen gelingt aber die Versöhnung.

  In dem als Liebesgeschichte deklarierten Text "Jericho" erzählt Angelika vor dem historischen Hintergrund der Ereignisse in Israel zwischen Sechs-Tage-Krieg und Gegenwart von ihrer bis in die Kindheit zurückreichenden sentimental-verklärten Beziehung zu der Stadt Jericho - einer Verquickung aus alttestamentarischen Motiven und der Erzählung von der jungen, verheirateten Jüdin Lydia, die unter mysteriösen Umständen irgendwann in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aus einem Hotel in Jericho mit ihrem arabischen Liebhaber spurlos verschwunden sein soll. Für Angelikas Privatleben, insbesondere für ihr Verhältnis zu ihren jeweiligen männlichen Partnern und für ihr Selbstverständnis als Person, entwickelt sich die Stadt so zum bestimmenden Faktor: Sie misst die Männer an deren Kompatibilität zu jenen romantischen Vorgaben - bis sich schließlich ihre Sicht der Stadt und des Staates Israel als Konsequenz aus Intifada und Autonomie relativiert.

  Als zweite Autorin sei Ronnith Neumann erwähnt. Sie wurde 1948 in Haifa, also in Israel, als Tochter zweier deutsch-jüdischer Emigranten geboren. Ihr ur­sprünglich in Berlin lebender Vater hatte in den dreißiger Jahren einer (denunzierten) Widerstandsgrup­pe gegen Hitler angehört. Ihm gelang buchstäblich in letzter Sekunde die Flucht nach Palä­stina. Dort lernte er Ronnith Neu­manns spätere Mutter kennen. Beide remi­grier­ten 1958 mit ihrer Tochter nach Deutsch­land. Später litera­ri­sierte die Tochter diesen Einschnitt in ihr Leben in dem Buch "Heimkehr in die Fremde".4 In einem Interview anläss­lich des Er­scheinens ihres Erzählbandes "Die Tür" be­schreibt sie ihre schriftstel­leri­sche Tätigkeit als den Ver­such, sich die Sehnsucht nach der israeli­schen Heimat von der Seele zu schreiben und sich gleichzeitig in "das deut­sche Land" hin­einzuschreiben.5 Mit den Jahren baute sie sich in Deut­schland eine Existenz als Fotografin, Cutterin bei der ARD und als Schriftstel­lerin auf. Seit 1999 lebt Ronnith Neumann als freie Schri­ftstellerin und Foto­grafin auf der griechischen Insel Kor­fu.6

  Anders als Schrobsdorff bevorzugt Neumann - sieht man von einzelnen Ausflügen ins Drama ab - das Genre der Kurzgeschichte, in Anlehnung an die amerikanische short story. Dementsprechend knapp ist die Sprache ihrer Texte. Ihre Themen orientieren sich vor dem Hintergrund eines wachen Bewusstseins für die Shoa und deren vielfältige Implikationen an aktuellen Entwicklungen unserer Gesellschaft: Diskriminierung, Rassismus, Unterdrückung jeglicher Art, Vergangenheits-Bewältigung. Dies mag auch erklären, weshalb zur Zeit selbst die jüngsten ihrer Publikationen nur mehr mit Glück als stehengebliebene Rest-Exemplare in örtlich entlegenen Buchhandlungen zu finden sind.7 Man kann sich somit einzig mit der Hoffnung auf Neu-Auflagen trösten. Dennoch spricht allein schon die angesprochene thematische Bandbreite von Neumanns Texten für eine Aufnahme der Autorin in den vorliegenden Beitrag. Das Augenmerk wird sich auf eine Auswahl an Erzählungen aus den jeweils rund 200-seitigen Erzählbänden "Ein stürmischer Sonntag" und "Die Tür" richten:

"Die Tür", "Nashkach", "Container-Ghetto", "Die Totenmaske", "Die seltsame Geschichte der Maria Fernanda Soarez", "Thuja 2000".8

  "Die Tür" erzählt die fiktionalisierte Geschichte der Großmutter der Autorin. Auf einer Polizeistation im deutsch besetzten Teil Frankreichs versucht der diensthabende Beamte einer für die Deportation nach Deutschland vorgesehenen jüdischen Familie die Flucht zu ermöglichen. Doch die betagte, verwitwete Mutter fühlt sich zu schwach, dem Rest der Familie zu folgen. Sie nimmt die Deportation in ein deutsches KZ auf sich, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten.

  "Nashkach" schlägt den Bogen zwischen Shoa und jüdisch-israelischer Gegenwart. Mark, der Sohn in Auschwitz vergaster Juden, gelangte als einziger Überlebender seiner Familie 1945 nach Palästina. Dort lernte er Anna, seine spätere Frau kennen. Ohne deren Wissen führt er jahrelang ein Doppelleben: Nach außen hin einem unauffälligen Leben nachgehend, leitet er sogenannte Geheimaktionen in palästinensischen Flüchtlingslagern - Anschläge, um palästinensische Familien zu töten. Erst nachdem er bei einem dieser Anschläge von Palästinensern getötet worden ist, entdeckt seine Frau in seinen Unterlagen die Wahrheit über ihren Mann: Ein Opfer war zum Täter geworden.

  Die Geschichte vom "Container-Ghetto" lässt sich in Hamburg lokalisieren; sie spielt in einer fiktiven Zukunft. Der Faschismus hat abermals gesellschaftliche Anerkennung und Gültigkeit erlangt, insbesondere bei der Jugend. Man hat für unerwünschte Bevölkerungsgruppen Container-Ghettos angelegt, die streng überwacht werden. Hinein oder hinaus gelangt man nur mit Erlaubnis oder durch Bestechung. Jana, die Protagonistin der Geschichte, lebt in einem solchen Ghetto. Gregor ist Ehemann und Vater von zwei Kindern, von denen der ältere Sohn der alt-neuen Ideologie aktiv anhängt. Gleichzeitig unterhält Gregor eine erotische Beziehung zu Jana. Er erwägt einen gemeinsamen Selbstmord, doch Jana lehnt dies ab. Sie hofft auf ein Leben danach.

  Als im weitesten Sinne phantastische Geschichte könnte man "Die Totenmaske" bezeichnen. Eine Gruppe männlicher und weiblicher amerikanischer College-Studenten reist nach Venedig. Bereits bei ihrer Ankunft begegnet ihnen eine traditionelle venezianische Totenmaske. Sie interpretieren sie als Ankündigung eines Unglückes. Nachdem sich ihnen die Maske noch mehrmals gezeigt hat, explodiert unter ihrem Tisch in einem Restaurant eine Bombe. Nur der wegen seiner Fettleibigkeit als unattraktiv geltende und von den übrigen verulkte und ausgenützte Student Peter (genannt Intelligenzija) überlebt die Explosion.

  In den satirisch-humoristischen Bereich gehört "Die seltsame Geschichte der Maria Fernanda Soarez", ohne jedoch ernsthafter Thematiken zu entbehren. In einem spanischen Bergstädtchen lebt die Witwe Maria Fernanda Soarez, deren verstorbener Mann immer besonders stolz auf die Schlankheit seiner Frau gewesen war und der ihr stets untersagt hatte, Schweinefleisch zu essen. Nach seinem Tod möchte sie nun an ihm Rache nehmen. Sie isst Unmengen an Schweinefleisch, bis sie sich eines Tages in ein Schwein verwandelt und in diesem Zustand dem von ihr bevorzugten Metzger vor die Füße läuft ...

  "Thuja 2000" wiederum literarisiert eine düstere Vision von medizinischem wie gesellschaftlichem Zynismus. Zu Versuchszwecken hat man die dreijährige leukämiekranke Jasmin Lehmann in einer Klinik mit dem Aids-Virus infiziert. Den ahnungslosen Eltern hat man von Amts wegen das Sorgerecht entzogen. Als Jasmins Vater Nachforschungen anstellt, stößt er in der entsprechenden Klinik auf eine ganze Station Infizierter: Behinderte, Obdachlose, Asylanten, Häftlinge, kranke Babys. Sie alle waren deklariert worden als Patienten "freigegeben zur weiteren Verwendung".

  Mit Barbara Honigmann begibt man sich in den Bereich jener Autorinnen und Autoren, deren Texte intensivere Einblicke in die Aspekte jüdischer Kultur voraussetzen. Wie die ein Jahr früher geborene Ronnith Neumann kam Barbara Honigmann als Kind deutsch-jüdischer Emigranten zur Welt, anders als Neumann jedoch erst nach deren Rückkehr aus dem Exil. Und anders als Neumanns Eltern ließ sich Barbara Honigmanns Familie im östlichen Teil Berlins, und damit im kommunistischen Teil Deutschlands, nieder und nicht in der BRD. In der DDR machte Honigmann 1967 das Abitur, studierte bis 1972 Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität. Danach war sie bis 1975 als Dramaturgin und Regisseurin in Brandenburg, an der Volksbühne und am Deutschen Theater in Berlin tätig. Seit 1975 lebt sie als freischaffende Autorin und Malerin - zunächst noch in der DDR, seit 1984 in Straßburg. Barbara Honigmann gehört dem PEN-deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland an.9

  Barbara Honigmanns Texte10 scheinen im Autobiographischen verankert. Doch sie spielen nur mit dem, was man über die Autorin zu wissen glaubt, und literarisieren so zentrale Thematiken: die Shoa, die Problematik eines jüdischen Lebens nach 1945, die Identitäten des aschkenasischen und des sephardischen Judentums.

  So erzählt in Honigmanns 1996 erschienenem und seit 1998 als 120-seitiges Rowohlt-Taschenbuch erhältlichem Roman "Soharas Reise" die in Straßburg lebende Ich-Erzählerin Sohara in zahlreichen Rückblenden von der Flucht ihrer Familie aus dem von Frankreich unabhängig gewordenen Algerien nach Frankreich und ihrem Leben dort als orthodox-sephardische algerische Jüdin und Ehefrau eines stets umherreisenden, betrügerischen marokkanischen Juden, der sich als Rabbiner ausgibt und Spenden ergaunert. Nachdem sie ihm jahrelang mit ihren gemeinsamen Kindern von einer französischen Stadt in die nächste gefolgt ist, entzieht er ihr schließlich unter dem Vorwand einer Ferienreise die sechs Kinder - ein Ereignis, das Sohara zu persönlicher Eigenständigkeit führt: Sie löst sich innerlich endgültig von ihrem Mann, dem sie bereits lange misstraut hatte, holt mithilfe des Straßburger Rabbiners ihre Kinder zurück und beginnt Abstand zu gewinnen von ihrer religiösen Orthodoxie.

  Wenden wir uns Rafael Seligmann zu. Als promovierter Politologe und Publizist lebt er heute in München. Geboren wurde er 1947 in Israel, 1957 kam er in die bayerische Hauptstadt. Seine bisher publizierten Texte - durchweg Romane - erschienen im DTV-Verlag: "Rubinsteins Versteigerung", "Die jiddische Mamme", "Der Musterjude", "Schalom, meine Liebe".11 Sie alle haben die deutsch-jüdische Gegenwart zu Inhalt und Thema, die nicht zuletzt einen nahezu permanenten inner-jüdischen Rechtfertigungs-Druck für die (wieder) in Deutschland lebenden Juden bedeutet.

  Anders als die bisher vorgestellten Autoren bedient sich Seligmann in seinen Büchern auf weite Strecken des jiddischen Jargons in Deutschland lebender Juden - eine potentielle Lese-Hürde, die zum Teil durch einschlägige Glossare am Ende der Texte, zum Teil aber auch dadurch überwunden werden kann, dass man sich leicht einliest. Mit Hinblick auf die Belange des vorliegenden Beitrages herausgegriffen seien die beiden jüngsten, zwischen 300 und 400 Seiten starken Romane des Autors: "Der Musterjude" und "Schalom, meine Liebe", der letztgenannte Titel auch unter dem Aspekt seines Ursprungs im Drehbuch eines zweiteiligen Filmes für die ARD.

  Von der Handlung her betrachtet, kreisen beide Bücher um einen jeweils deutsch-jüdischen Protagonisten männlichen Geschlechts Ende Dreißig, der sich bislang nicht zu einer eigenständigen privaten wie beruflichen Lebens-Gestaltung in der Lage fühlte - aufgrund je spezifischer Abhängigkeiten: traditionell-familiäre Erwartungen, die als Verpflichtungen definiert und empfunden werden; das Bewusstsein, Jude zu sein - und das insbesondere in Deutschland; der (gescheiterte) Versuch, Israeli zu werden. Die Folien der Abhängigkeiten bilden die Liebes-Beziehungen der sexuell bewusst aktiven Protagonisten. In deren pointierender Zeichnung präsentieren sich beide Texte als unverhohlen erotisch. Von der Figuren-Konzeption her betrachtet, entwerfen die beiden Bücher durchweg Bilder emotional abhängiger, mutter-zentrierter, weltfremder jüdischer Männer, und Bilder von in ihrem Verhältnis zu den Männern dominant-realistischen, aber nicht eigentlich starken, jüdischen Frauen und Müttern. Emotionalen Halt und eigene Identität suchen (und finden) die Protagonisten bei nicht-jüdischen Frauen.

  In diesem Sinne erzählt "Der Musterjude" von dem in München lebenden Moische Bernstein, der ebenso gerne durch Eindeutschung seines Vornamens zu Manfred seine jüdische Herkunft verdecken würde wie er einst Journalist werden wollte und der doch an seinem vierzigsten Geburtstag noch immer im ehemaligen Geschäft seiner Eltern, von der Mutter zu mehr Geschäftseifer angetrieben, Jeans verkauft: Die Mutter hatte ihn nach dem Tod des Vaters an seine familiäre Verpflichtung erinnert und aus einem Zeitungs-Volontariat aus New York zurückbeordert. Heimlich trifft er sich mit seiner von der Mutter abgelehnten deutschen Freundin. Doch dann bringt ein Zufall für ihn den kurzen journalistischen (und privaten) Höhenflug: Er soll unter dem Teil-Pseudonym Moische Israel Bernstein auf provokant-populistische Weise sogenannte "heiße Eisen" anpacken - weil er Jude ist, und weil jeder Angriff auf seine Meinung in den Geruch des Antisemitismus geraten würde. Er bringt es bis zum Chef-Redakteur einer Berliner Tageszeitung, und die reiche jüdische Inhaberin eines Immobilien-Imperiums nimmt ihn sich zum Geliebten. Seine Karriere endet schlagartig, als durch eine Intrige die in Auschwitz herbeigeführte Zeugungsunfähigkeit seines jüdischen Vaters publik wird; die Geliebte wirft ihn aus dem Haus. Er kehrt nach München in die finanzielle Abhängigkeit von seiner Mutter zurück.

  Ron Rosenthal in "Schalom, meine Liebe" arbeitet als Werbe-Filmer in Frankfurt am Main, wo seine gesamte Verwandtschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebt und wo er eine (von der Familie gleichfalls missbilligte) deutsche Freundin hat. Doch gleichzeitig träumt er seit seiner Studienzeit in Jerusalem von einer Karriere als Pilot in Israel. Dort lebt sein aus jener Zeit stammender (unehelicher) Sohn Benni und die Mutter seines Sohnes, Yael, deren patriarchalisch strukturierte Familie wiederum Ron missbilligt. Zunächst, weil er Diaspora-Jude ist - und dann, weil er sich geweigert hatte, Yael zu heiraten. Ron fühlt sich zwischen Deutschland und Israel ebenso hin und her gerissen, wie zwischen den beiden Frauen. Schließlich entscheidet er sich für Deutschland, hat erste berufliche Erfolge, holt seinen Sohn zu sich und heiratet seine inzwischen schwangere deutsche Freundin, die einige Zeit nach der Eheschließung zum Judentum übertritt wie zuvor schon Rons Mutter bei ihrer Heirat. Der Roman endet mit der Beschneidung seines Sohnes Chaim.

  Nur für Spezialisten, d. h. in diesem Fall für literatur- und kulturinteressierte, hochmotivierte Abiturienten zu empfehlen sind die Texte des zwar aus Wiener Neustadt stammenden Elazar Benyoëtz. 1937 geboren, emigrierte er mit seinen Eltern nach Palästina. In seinem Elternhaus war bis zum Tod des Vaters 1943 die deut­sche Sprache stets präsent, im Gespräch mit der zionistisch begeisterten Mutter und in der Öffentlichkeit (also in der Schule und dgl.) begeg­nete ihm das Hebräische. Sein Inter­esse für deutsche Lite­ratur wurde mehr durch Zufall geweckt. In einem Brief erzählt er, wie er als 16jähriger mit seinem geringen Taschengeld im Antiquariat einzig deutsche Bücher kaufen konnte.12 Sie waren billiger als hebräische. Er absol­vierte eine Rab­biner-Aus­bil­dung, lebte als Sti­pen­di­at einige Zeit in Berlin, begründete dort die Enzy­klopä­die der "Bibliographia Judai­ca", kehr­te nach Israel zurück und lebt heute dort. Sein litera­risches Schaffen umfasst deutsch­sprachige Texte ebenso wie solche in hebräischer Sprache. Seine ersten Publikationen verfasste er in Hebräisch.13

  Kennzeichnend für die Konzeption von Benyoëtz' anspruchsvollen Veröffentlichungen14 ist deren gedanklich-philosophische Verankerung im Religiösen und in der Auseinandersetzung mit der Shoa. Von literarisch-stilistischer Warte aus gesehen, fallen die Texte auf durch die collagehafte Zusammenschaltung unterschiedlicher Textsorten, die Vorliebe des Autors für Aphorismen und durch sein Spiel mit der deutschen Sprache - oder besser: sein Spiel mit den gängigen Bedeutungen der Wörter, die er den Bedeutungen der einzelnen Wort-Bestandteile kontrastiert.

  "Letzte Morgenstunde der Aufklärung oder: Goethes ganz privater Ahasver"15 präsentiert konform dazu im Umfang von neun Seiten die literarisiert-fiktionalisierte Interpretation des Autors zu den Grundlagen der Shoa: allen voran zu dem seit der deutschen Aufklärung bestehenden Bestreben der mitteleuropäischen Juden, sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu assimilieren. Drei Figuren versinnlichen dies: die fiktive Gestalt des römischen Juden Menophilus aus einem im 7. Buch des Martial enthaltenen Epigramm, die Gestalt des Religionsphilosophen Moses Mendelssohn und die des ersten deutschsprachigen Lyrikers jüdischer Abstammung, Issachar Falkensohn Behr.16 Am Beginn steht Menophilus, wie er seinem römischen Freund und der römischen Öffentlichkeit seine jüdische Herkunft verschweigt und dadurch bei der unfreiwilligen Entdeckung seines Judentums der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Die folgenden Text-Abschnitte widmen sich Moses Mendelssohn, seinem gesellschaftlichen Status und Umfeld, zu dem in gewisser Weise auch Issachar Falkensohn zu zählen ist. Dessen Werdegang widmen sich die abschließenden Text-Teile: der Assimilation des Issachar Falkensohn zu dem Issachar Falkensohn Behr. Moses Mendelssohn, Falkensohns Vorbild, hatte diesen Schritt nicht vollzogen. Den Prozess der Assimilation fasst der Schluss des Textes ins pointierende Bild: Issachar Falkensohn Behr steht vor einem Spiegel und liest jenes Epigramm aus dem 7. Buch des Martial über den Juden Menophilus. Doch Behrs Spiegel-Bild lässt ihn seinen eigenen ersten (deutschsprachigen) Gedichtband in der Hand halten.

 

 

2. "Literatur des Überlebens" als (thematisches) Programm

 

Betrachtet man nun die vorgestellten Autoren und ihre Texte nochmals rückblickend unter dem Aspekt etwaiger Gemeinsamkeiten, fällt zweierlei auf: Man hat es, erstens, mit Schriftsteller-Charakteren zu tun, deren Biographien zwar als kleinsten gemeinsamen Nenner die jüdische Herkunft aufweisen, die aber in ihren Details doch recht unterschiedlich verlaufen sind: Schrobsdorff und Benyoëtz erlebten die Zeit des Nationalsozialismus noch aktiv mit - wenn auch aus der räumlichen Distanz. Ronnith Neumann, Barbara Honigmann und Rafael Seligmann dagegen wurden mit jener Zeit durch die Erzählungen ihrer Eltern und Verwandten konfron­tiert. Sie gehören der nächsten Generation an. Und, zweitens, könnten Inhalte wie Schauplätze ihrer Texte unterschiedlicher nicht sein.

  Wendet man sich allerdings den Thematiken bzw. Problematiken zu, die sich in den erzähl­ten Inhalten der Texte verbergen, so fin­den sich auffallende Parallelen. Auf je unterschiedliche Art und Weise kreisen alle Texte um ein thematisches Bündel: der Auseinandersetzung mit Identität und Identifikation, der Auseinandersetzung mit Macht­strukturen, der Auseinandersetzung mit der Shoa, der Auseinandersetzung mit Erscheinungen der Gegen­warts-Politik und -Gesellschaft, der Auseinandersetzung mit Vergangenem, der Auseinander­setzung mit Vertreibung und Unterdrückung.

  Man hat es demnach mit Tex­ten zu tun, die sich unter dem thematischen Aspekt zusam­menfassen lassen - nämlich insofern, als sie eben vergleichbare Pro­blematiken aufgrei­fen, diese im Kostüm durchaus unter­schiedlicher Si­tuatio­nen und Zusammenhänge dem Leser näherzu­bringen suchen - und die sich insofern zusammenfassen lassen, als die Motivation der offensichtlichen Präferenz für jene Thematiken berechtigterweise im biographischen Hintergrund der jeweiligen Autorinnen und Autoren (insbesondere in der Erfahrung der Shoa) vermutet werden darf. Dies gilt offensichtlich selbst dann, wenn das Wissen bzw. der Erfahrungswert über Dritte vermittelt wurde; über Dritte allerdings, zu denen die Autorinnen und Autoren in einer intensiven Beziehung standen.

  Oder um es in anderen Worten zu verdeutlichen: Wer vertrieben wurde, scheint offenkundig sen­sib­ler zu sein für die Proble­matik von Vertreibung und Diskrimi­nie­rung. Wer unter einem totalitä­ren Regime zu leiden hatte, scheint offenkundig sensibler zu sein für die politi­schen und gesellschaftlichen Ent­wicklungen der Gegen­wart, und so weiter. Und Vergleichbares gilt offenkundig für jeman­den, der zwar die Zeit selbst nicht mehr erlebt hat, der aber in dem Bewusstsein aufgewachsen ist: Es hätte auch dich erwischen können.

  Das Be­wusstsein des Über­le­bens be­wirkt offenbar eine ande­re Sicht der Welt. Elazar Benyoëtz beschrieb diesen Umstand in einer Rede so: "Nie werde ich für andere schreiben, noch geschrieben haben können, als für die Überlebenden unter den Mördern meines Volkes und deren Kindeskinder. Warum ich das tue? Weil es für mich die einzige Form der Solidarität ist. Es ist mein Auschwitz. Mit Abstand. [...] Was ich damit sagen will? Dass auch wir unsere Schuldgefühle haben"17. Diese andere Sicht der Welt spricht aus jener Literatur - und dies eben übergreifend bei durchaus unterschiedlichen Autoren-Charakteren.

  Glei­chzeitig bedeutet diese Sicht der Welt und ihre literari­sche Umset­zung aber nicht weniger als den Versuch eines Überlebens im Sinne der Suche nach neuer Identität, nach zukunftweisender Perspektive. Und wie schon die beschränkte Auswahl an Texten zeigt, kann dies viel­fältige Ergebnisse zeitigen. Keineswegs hat man es nämlich bei der Literatur von jüdischen Autorinnen und Auto­ren nach 1945 nur mit - wenn man es banal sagen möch­te - der simplen Nacher­zählung eigener oder fremder Emigrations-Erleb­nisse zu tun, sondern vielmehr mit der intellektu­ell-literarischen Bewältigung von Erfahrungs-Werten einer ethnischen Grup­pe.

  Die aufgezeigte Doppel-Natur des "Überlebens" verkörpert somit das zentrale Potential literarischer Werke jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945, das es in einer schulischen Integration der oben vorgestellten Texte fruchtbar zu machen lohnt: ausgehend von der programmatisch gesetzten Bezeichnung "Literatur des Über­le­bens" in der diskutierend-analysierenden Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Problematiken.

  "Literatur des Überlebens" steht in einem solchen Rahmen sowohl für die Literatur-Produktion derjenigen jüdischen Autorinnen und Autoren, die die Shoa überlebt haben oder erst danach geboren wurden, aber mit ihrem Erbe leben müssen, als auch für die Umschreibung der Eigenart einer Literatur, die das Dokument des Versuches von Menschen darstellt, sich angesichts eines nieder­schmetternden Erbes über den Umweg der literarischen Auseinan­dersetzung mit diesem eine Gegenwart und eine Zukunft zu ermög­lichen.

  Damit bieten sich jene Texte aber gleichzeitig an, auf der Grundlage der in ihnen literarisierten Problematiken als Ausgangspunkte herangezogen zu werden für die Erarbeitung von strukturellen Querverbindungen zu zahlreichen weiteren kulturell-gesellschaftlich-politischen Phänomenen und Fragestellungen (Umgang mit Minderheiten, religiöse Verfolgung etc.) in Vergangenheit und Gegenwart. Der Gesichtspunkt der "Übertragbarkeit" eröffnet hier die Möglichkeit zu einem sich wirklich aus der Sache ergebenden fächer-übergreifenden Unterricht, der gleichermaßen geeignet ist, sogenannte Schlüssel-Kompetenzen zu trainieren, wie eine auf Eigenständigkeit und Kritikfähigkeit gerichtete Persönlichkeitsbildung der Schüler zu unterstützen - ein Anliegen, das sich ein engagierter Deutschunterricht heute mehr denn je zu eigen machen sollte.

 

 

3. "Literatur des Überlebens" - welchen Kontext fordert die schulische Auseinandersetzung mit ihr?

 

Um dieses Potential deutschsprachiger Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 im Deutschunterricht wirklich ausschöpfen zu können, bedarf es natürlich eines geeigneten Kontextes: eines geeigneten text-bezogenen Kontextes und eines geeigneten Institutions-bezogenen Kontextes.

  Der text-bezogene Kontext ergibt sich aus der Einbindung der Texte in den (generellen) historisch-kulturellen Rahmen (den gegenwärtigen wie den vergangenen) des deutschsprachigen Raumes, der Einbindung in die historische Entwicklung der deutsch-jüdischen Kultur unter Berücksichtigung markanter Phänomene (Assimilation, Sprach-Wahl, kulturelle Exponenten), und in diesem Zusammenhang insbesondere aus der Herstellung eines (begleitend-kontrastierenden) Bezuges zu deutsch-jüdischer Literatur vor 1945 (markante Phänomene, wie etwa die Exponenten der deutschsprachigen Literatur aus dem Prag der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert). Ziel soll die Verdeutlichung der ganzheitlichen Wechselseitigkeit kultureller Phänomene sein: Literatur als Spiegel einer Gesellschaft und gleichzeitig als deren integraler Anteil.

  Bevor man sich allerdings in der skizzierten Weise auf "Literatur des Überlebens" einlässt, sollte man sich auch den grundsätzlich geeigneten Institutions-bezogenen Kontext bewusst machen. Denn ein solcher bedeutet: eine gut bis sehr gut mit Primärtexten und Nachschlagewerken ausgestattete Schul-Bibliothek, die eigenständiges Arbeiten von Schülern zulässt; geschichts- und literaturinteressierte Schüler, oder aber: politisch interessierte bzw. engagierte Schüler, die bereit sind, sich entsprechend motivieren zu lassen; weiters kooperations-bereite Kollegen aus anderen Fächern (Geschichte, Religion); und nicht zu vergessen, die Möglichkeit (finanziell etc.), Autoren ggf. zu Lesungen einzuladen, auch wenn sie nicht über das staatlich geförderte Kulturservice vermittelt werden. Insbesondere für den Fall, dass man an einer BMHS unterrichtet, tritt zu diesen Voraussetzungen noch die unerschütterliche Überzeugung des Lehrers, dass Kultur-Vermittlung wesentlichen Anteil an der Persönlichkeits-Bildung der erwerbstätigen Generation von morgen hat und dass sich deshalb ein sinnvoller Deutsch-Unterricht nicht reduzieren lassen darf auf die Vermittlung rein handwerklicher Fertigkeiten.

  Abseits des aufgezeigten Kontextes läuft eine Beschäftigung mit Texten, wie den oben vorgestellten, Gefahr, müßig zu werden, d. h. auf ein unbefriedigendes Minimum reduziert zu werden. Einen der Texte nämlich isoliert zu lesen und vielleicht noch ein wenig über ihn zu diskutieren, ist kaum zu empfehlen. Zum einen überfordert man die betroffenen Schüler insofern, als man sie in gewisser Weise mit dem Text allein lässt, zum anderen verschenkt man viele Möglichkeiten der Vernetzung einzelner Unterrichts-Inhalte und -Ziele. Sucht man deshalb (im Sinne einer durchaus lobenswerten Lese-Förderung) "nur" einen aktuellen Text für die nächste Klassenlektüre, dessen Wahl überdies noch kritisches Engagement verrät, sollte man besser keinen der vorgestellten Titel in Betracht ziehen. Natürlich meint dies nicht die exemplarische Lektüre im Rahmen der literaturgeschichtlichen Ziele des Deutschunterrichtes.

 

 

4. "Literatur des Überlebens" - welche Fertigkeiten (Schlüsselqualifikationen) lassen sich in der schulischen Auseinandersetzung mit ihr vertiefen?

 

Wozu sich "Literatur des Überlebens" dagegen über eine exemplarische Lektüre im Rahmen des literaturgeschichtlichen Deutsch-Unterrichtes hinaus in besonderer Weise eignet, sind:

1. Projekt-Arbeiten zu diversen Problem-Schwerpunkten (Umgang mit Mutikulturalität/ Minderheiten; Umgang mit dem kulturell/ religiös/ gesellschaftlich/ persönlich Fremden; Umgang mit Geschlechterrollen in unterschiedlichen kulturellen Verbänden etc.);

2. Referate, die von Schülern zu konkreten Unterrichts-Inhalten vertiefend zu erarbeiten sind (jeweils konkrete kulturelle/ historische/ gesellschaftliche/ literaturgeschichtliche Fragestellungen, die an einem literarischen Text veranschaulicht werden können);

3. Fachbereichs-Arbeiten im Rahmen der Reifeprüfung (im Unterricht noch nicht behandelter Text als Zentrum, dessen verschiedene Aspekte in ihren kulturell-historisch-politischen Wurzeln, Hintergründen, Zusammenhängen und potentiellen Auswirkungen vom Abiturienten dargestellt werden sollen). Als Faustregel kann hier gelten: Vielfältig wie die Texte sind die Möglichkeiten des Einsatzes - als Einstieg in einen Problem-Kreis; als (pointierend-zusammenfassendes) Illustrations-Objekt für zuvor theoretisch erarbeitete Inhalte; oder umgekehrt: als weiterführende Grundlage für die Erarbeitung solcher Inhalte; zur Veranschaulichung des Facettenreichtums deutschsprachiger Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945.

  Auf der Grundlage der angeregten Einbindung von deutschsprachigen Texten jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 in Projekte, Referate und Fachbereichsarbeiten, die den arbeits-technischen Drei-Schritt: vorbereitende Recherche zur Fragestellung - Formulierung des Ergebnisses - Präsentation des Ergebnisses voraussetzt, können so zusätzlich zu den klassischen Zielen des Deutschunterrichtes (sprachlich und argumentativ präzise schriftliche und mündliche Artikulation von Inhalten, Erfassung und Wiedergabe gelesener Inhalte, Präsentation von Inhalten vor Publikum) eine ganze Reihe weiterer Fertigkeiten bzw. sogenannter "Schlüsselqualifikationen" und Bildungsziele vertieft werden.

  Zunächst wäre da die vom (erfolgreichen) Schüler in ausreichendem Maß zu erwerbende Fertigkeit in der eigenständigen Beschaffung benötigter Informationen zu nennen (Wo suche ich was?); weiters die als Ausbildungs-Ziel stetig zu entwickelnde Fähigkeit, Informationen Fragestellungs-orientiert zu suchen (Welche Daten benötige ich wirklich, um gezielt auf meine Fragestellung einzugehen/ um mein Problem zu lösen?); dann die Fähigkeit, den diesbezüglichen Such-Vorgang effizient zu strukturieren (Wo beginne ich zu suchen? Welche Information brauche ich zuerst, welche später?). Das Training dieser drei Bereiche besitzt sein Ziel in der Ausbildung einer problemlösungs-orientierten Persönlichkeit (Man hat mir eine Aufgabe gestellt. Wie gehe ich vor, um sie zu lösen? Und nicht: Wie vermeide ich es, sie lösen zu müssen?).

  Weiters ergibt sich die Gelegenheit, das Abstraktionsvermögen der Schüler zu trainieren, also die Fähigkeit, das auf andere Zusammenhänge Übertragbare im konkreten Beispiel zu erkennen.

  Schließlich sollte die Auseinandersetzung mit "Literatur des Überlebens" (hoffentlich) die Bereitschaft junger Menschen zu kritisch-eigenständigem Denken im Sinne einer "Wachheit" für gesellschaftliche wie politische Entwicklungen fördern (Habe ich mich schon einmal gefragt, was ein bestimmtes Verhalten für die davon Betroffenen bedeutet?) und ihre Bereitschaft zu kultureller Offenheit (Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in einer mir fremden Kultur lebte?).

  Um in der Erreichung der genannten Ziele erfolgreich zu sein, erweist sich - fast klingt dies wie eine Binsenweisheit - das Bemühen um eine Balance zwischen angeleitetem und (er)forschendem Lernen als unumgänglich. Zu viel und zu wenig an (vorbereitender oder begleitender) Information von Seiten des Lehrers kann gleichermaßen kontraproduktiv wirken: Beides wird von Schülern möglicherweise als Überforderung wahrgenommen (Was soll ich mit dem ganzen Material? Ich blicke da nicht mehr durch! Oder aber: Ich weiß nicht, was ich tun soll/ wo ich suchen soll/ worauf ich achten soll etc.), aus der sie in demonstratives Desinteresse flüchten (Ich verstehe das sowieso nicht! So ein Schwachsinn, wozu brauch ich das!?). Der in Hinblick auf "sein" Thema hoch motivierte Lehrer, dem diese Ablehnung entgegentritt, bleibt frustriert zurück (Diese Klasse interessiert sich aber auch für nichts!). Allerdings lässt sich kaum verallgemeinernd sagen, was zu viel und was zu wenig ist. Die Entscheidung darüber hängt vom konkreten Klassenverband ebenso ab wie von der jeweils gestellten Arbeitsaufgabe und den jeweiligen Lern-Zielen, die man mit ihr verfolgt.

 

 

5. Unterrichtsmodelle

 

In diesem (relativierenden) Sinne möchten sich auch die folgenden Ausführungen zu Möglichkeiten, sich die oben vorgestellten Texte im gemeinsamen Deutschunterricht - also nicht im Referat und nicht in der Fachbereichsarbeit, sondern im Projekt oder im Rahmen der literaturgeschichtlich motivierten Lektüre - zunutze zu machen, verstanden wissen. Die Anregungen verstehen sich nicht als Blaupausen für Stundenbilder, sondern vielmehr als potentielle Teile eines Puzzles, die man nach dem aktuellen Bedarf ggf. miteinander oder auch mit entsprechenden Teilen anderer (literarisch-thematischer) Puzzles kombinieren kann.

 

 

A. Angelika Schrobsdorffs Texte - die Möglichkeit des Einstiegs in den Themenbereich Shoa und israelisch-palästinensische Gegenwart

 

Unterrichts-Situation 1:

Gemeinsames Projekt der Fächer Geschichte und Deutsch: "Autoritäre Regime im 20. Jahrhundert: Nationalsozialismus und Realer Sozialismus/ Kommunismus. Die aktuelle literarische und journalistische Auseinandersetzung mit ihnen". Die Dokumentation der Ergebnisse (Präsentation, Poster und dgl.) ist vorgesehen.

 

Voraussetzung:

In beiden Fächern wurde einleitend über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen. Es wurden neben den spezifischen Phänomenen (Shoa, Zweiter Weltkrieg etc.) jene Strukturen sichtbar gemacht, die Hitlers Nationalsozialismus als autoritäres Regime kennzeichnen (politische Indoktrinierung, Berufsverbote für Andersdenkende und bestimmte ethnische Gruppen, Spitzelwesen, Literatur-Zensur und Literatur-Verbot). Von hier aus wurde in beiden Fächern unter dem Aspekt der "Übertragbarkeit" autoritärer Machtstrukturen auf den Realen Sozialismus/ Kommunismus übergeleitet.

 

Vorgehensweise:

Die journalistische Auseinandersetzung mit den beiden Ideologien wird im Geschichts-Unterricht aufgearbeitet (Sammlung und Sichtung von Artikeln in Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, die unterschiedlichen weltanschaulichen Richtungen angehören). Für den Deutschunterricht hat man sich den Bereich der Gegenwartsliteratur vorgenommen.

  Man wählt drei unterschiedliche Texte: jeweils einen Text der Gegenwartsliteratur, der sich mit einer der beiden Ideologien beschäftigt (z. B.: Wolfgang Koeppen: "Der Tod in Rom", Stefan Heym: "Die Architekten"), und für den Bereich der deutschsprachigen Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 Angelika Schrobsdorffs Text "Die Reise nach Sofia", der die Erfahrung beider Ideologien literarisiert.

  Die Schüler arbeiten in 3 mittelgroßen Gruppen (6-8 Schüler je nach Klassengröße). Arbeits-Teilung ist im Interesse des begrenzten Zeitrahmens (je nach Arbeitstempo incl. Vorbereitungs-Phase 5-6 Unterrichts-Einheiten plus 1 Unterrichtseinheit für die Präsentation) empfehlenswert. Eine längere Beschäftigung mit demselben Thema könnte ermüdend und demotivierend wirken.

  Zu Beginn der Vorbereitungs-Phase wählt jede Gruppe einen der drei Texte. Sie erhält diesen zunächst zur häuslichen Lektüre (ca. 1 Woche). Während dieses Zeitraumes erarbeiten alle drei Gruppen gemeinsam mit dem Lehrer im Unterricht (3 Unterrichtseinheiten) Strategien für die Analyse des Textes auf die projektierte Fragestellung hin und für die spätere Präsentation der Ergebnisse (Worauf ist im Text zu achten? Was im Text kann Aufschluß geben in Hinblick auf die projektierte Fragestellung? Sollen Fragen formuliert werden? Wenn ja, welche? Soll ein Arbeitsblatt angelegt werden? Wenn ja, wie soll es aussehen? Welche Art der Präsentation soll gewählt werden? Wer übernimmt welche Aufgaben? etc). Die Vorbereitungsphase schließt damit, dass die einzelnen Gruppen die geplante Vorgehensweise den übrigen Gruppen präsentieren, begründen und in ihren Zielen erklären (Wir haben uns für ... entschieden, weil wir/ um zu ...).

  Die erforderliche Einflußnahme des Lehrers in der Vorbereitungs-Phase sollte sich nach Möglichkeit auf die Hilfestellung bei der Auswahl zwischen sinnvollen und weniger sinnvollen Vorgehensweisen beschränken und so größtmögliche Kreativität der Schüler zulassen. Allerdings sollte der erste Arbeitsschritt der eigentlichen Gruppenarbeit auf jeden Fall für alle Gruppen (verbindlich) in der Formulierung einer Inhaltsangabe und der (wenn möglich graphischen) Ausarbeitung der Figuren-Konstellation des gewählten Textes bestehen. Den Gradmesser für die Ausführlichkeit der Inhaltsangabe stellt dabei der Umstand dar, dass die beiden anderen Gruppen (und etwaige sonstige Teilnehmer an der vorgesehenen Präsentation) den jeweiligen Text nicht gelesen haben.

  Im Anschluss an die Präsentation sind Fragen erwünscht. Die zuhörenden Schüler sollten daher gezielt dazu angehalten werden, sich stichwortartige Notizen (Unklarheiten, Interessens-Fragen etc.) zu machen.

  Didaktisches Ziel der Projekt-Arbeit neben der Erarbeitung von Inhalten ist es, unterschiedliche Blickwinkel ein Problem betreffend kennenzulernen, zu analysieren und für Dritte in ihren Aspekten sachlich und objektiv darzustellen.

 

 

Unterrichts-Situation 2:

Gemeinsames Projekt der Fächer Geschichte und Deutsch: "Der Nahe Osten nach 1945: Israel und seine arabischen Nachbarn"

 

Voraussetzung:

Keine, außer der parallelen, jeweils fachspezifischen Behandlung des 20. Jahrhunderts in beiden Fächern.

 

Vorgehensweise:

Während im Geschichtsunterricht die israelische Politik nach 1945 im Lichte der Berichterstattung von Außen (Geschichtsbücher, Zeitungs-, Zeitschriften- und Magazinartikel) erarbeitet wird, widmet sich der Deutschunterricht unter literarischem Aspekt der Innen-Sicht. Zu diesem Zweck erscheint die exemplarische Lektüre und Analyse von Angelika Schrobsdorffs Text "Jericho. Eine Liebesgeschichte" sinnvoll.

  Abermals empfiehlt es sich, in mittelgroßen Gruppen (6-8 Schüler je nach Klassengröße) zu arbeiten, im Ausmaß von 3 Unterrichts-Einheiten für die Vorbereitungs-Phase und 2-3 Unterrichtseinheiten für die eigentliche Gruppenarbeit. Innerhalb der Gruppen ist einmal mehr Arbeitsteilung anzuraten.

  In der Vorbereitungsphase werden diesmal gruppenweise unter Hilfestellung des Lehrers nur Strategien zur Lösung der Arbeitsaufgabe erarbeitet, und anders als in Unterrichtssituation 1 haben die Schüler alle denselben Text zur häuslichen Lektüre (ca. 1 Woche) erhalten.

 Die von den einzelnen Gruppen erarbeiteten Strategien werden wie in Unterrichtssituation 1 zunächst dem Plenum präsentiert, begründet und in ihren Zielen erklärt. Allerdings sind sie diesmal lediglich als Vorschläge zu betrachten, aus denen anschließend gemeinsam im Klassenverband eine für alle Gruppen verbindliche (zu begründende) Auswahl getroffen wird.

  Es wird dann in allen Gruppen dieselbe Aufgabenstellung in Angriff genommen. Trotzdem sind wohl unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten. Diese werden in der Endphase des Projektes zunächst im Klassenverband vorgetragen und diskutiert. Anschließend einigt man sich auf eine gemeinsame Variante für die geplante Präsentation.

  Für die Präsentation bestimmt jede Gruppe einen Repräsentanten. Während die Präsentations-Gruppe an der Formulierung der Ergebnisse und an der Vortrags-Strategie arbeitet, erstellt der Rest der Klasse eine visuelle Dokumentation der Projekt-Ergebnisse (Poster). Diese Vorgehensweise ist Konsequenz des Umstandes, dass alle Schüler mit demselben Text und denselben Strategien gearbeitet haben.

  Didaktisches Ziel des Projektes neben der Erarbeitung von Inhalten ist es, sich mit dem Phänomen der Außen- und Innensicht auf ein Problem auseinanderzusetzen, beide Sichtweisen zu analysieren, zu dokumentieren und die Ergebnisse zu präsentieren und bzgl. der in Gruppen erarbeiteten Ergebnisse im Klassenverband zu einem Konsens zu gelangen.

 

 

B.1 Ronnith Neumanns Texte - der Facetten-Reichtum deutschsprachiger Literatur von jüdischen Autorinnen und Autoren nach 1945

 

Unterrichts-Situation 3:

Der umfassende Bereich der Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber die Gegenwartsliteratur, soll im Hinblick auf markante Phänomene anhand exemplarischer Lektüre gemeinsam erarbeitet werden, z. T. eventuell auch im Rahmen einer Autoren-Lesung. Man hat gerade das Phänomen der deutschsprachigen Literatur Prager Autoren vom Beginn des 20. Jahrhunderts behandelt (Rilke, Kafka u.a.), auch unter dem Aspekt von Multikulturalität und Assimilation (deutsch-jüdisch-tschechisch), der vorhandenen Nationalitäten-Konflikte (deutsch-tschechisch) und des aufkeimenden Deutsch-Nationalismus (deutsch-jüdisch), dazu exemplarisch einen Text gelesen (z. B. Meyrink: Golem; Strobl: Vazlavbude; Rilke: Zwei Geschwister; Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke). Von hier unter dem Aspekt der Shoa den Bogen zur deutschsprachigen Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 zu schlagen, bietet sich an unter dem Titel: "Aspekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Deutschsprachige Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945". Die Kooperation mit dem Geschichts-Kollegen ist vorgesehen (parallele Behandlung von Nationalsozialismus und Shoa im Geschichtsunterricht).

 

Voraussetzung:

Keine (über die soeben genannten hinaus).

 

Vorgehensweise:

Da das Phänomen deutschsprachiger Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 unter dem programmatischen Aspekt der "Literatur des Überlebens" gemeinsam erarbeitet werden soll, empfiehlt sich als thematischer (visueller) Einstieg der Beitrag zur Reichskristallnacht aus der ZDF-Reihe "100 Jahre". Die Reihe ist als Video erhältlich und damit leicht zugänglich.

  Natürlich könnte man aufgrund der Kürze von Ronnith Neumanns Texten eine beliebige Anzahl thematisch unterschiedlicher Geschichten aus den oben genannten Erzähl-Bänden auswählen. Allerdings zeigt die Erfahrung mit Ronnith Neumanns Lesungen an Schulen (siehe auch B.2.), dass sich eine 3er- oder 4er-Kombination am besten eignet: 1 Shoa-Text (z.B.: "Die Tür") plus 1 Text zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen (z.B.: "Das Container-Ghetto") plus eventuell 1 Text aus dem Bereich der Phantastik (z.B. "Die Totenmaske") plus 1 satirisch-humoristischer Text (z.B.: "Die seltsame Geschichte der Maria Fernanda Soarez").

  Entscheidet man sich dafür, die Autorin zu einer Lesung einzuladen, ergibt sich erfahrungsgemäß die Erarbeitung der Aspekte der "Literatur des Überlebens" im Rahmen der Diskussion mit der Autorin (siehe auch B.2.). Man sollte deshalb und im Interesse eines unvoreingenommenen Literatur-Erlebnisses auf eine Vorbereitung der für die Lesung vorgesehenen Texte im Unterricht verzichten. Als Nach-Bereitung im Klassenverband bleibt nur mehr die strukturierende Dokumentation des Erarbeiteten.

  Sollte man sich gegen eine Autoren-Lesung und für die exemplarische gemeinsame Lektüre im Klassenverband entscheiden, oder sollte man nicht die Möglichkeit zu einer Autoren-Lesung haben, wäre die folgende Vorgehensweise möglich:

  Man inszeniert eine Literatur-Lesung mit Schülern im Ausmaß von 2 (idealerweise geblockten) Unterrichts-Einheiten. Zunächst erhalten alle Schüler die 3-4 ausgewählten Texte bis zu einem zu vereinbarenden Termin zur häuslichen Lektüre. Gleichzeitig sollen sie sich überlegen, ob sie der Klasse einen (oder eventuell auch mehrere) der Texte im Unterricht vorlesen möchten. Eine Gruppe von 3-4 Freiwilligen schlüpft so in die Rolle des Akteurs bei einer Literatur-Lesung.

  Nach jedem Text soll sich eine Besprechung bzw. Diskussion anschließen, die weitestgehend von den Schülern ausgeht, aber ggf. vom Lehrer in die durch das Programm "Literatur des Überlebens" vorgegebene Richtung gelenkt werden sollte. In diesem Sinne übernimmt der Lehrer die Rolle des Moderators bzw. des Diskussionsleiters (Wie seid ihr mit dem Text zurecht gekommen? Hat er euch gefallen? Was an dem Text hat euch gefallen/ beeindruckt/ ...? Warum? Was an dem Text hat euch nicht gefallen? Warum nicht? Worum geht es in dem Text, welches Problem behandelt er? Hättet ihr einen solchen Text im Rahmen unseres Themas "Aspekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Deutschsprachige Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945" erwartet? Warum? warum nicht? etc.). Auf die Begründung der Wortmeldungen sollte Wert gelegt werden, ohne dadurch die Besprechung/ Diskussion zu hemmen (Die Wortmeldung: "Mir hat der Text nicht gefallen, weil ich solche Texte nicht mag", kann nicht genügen). Dies sollte als Regel vorher festgelegt werden.

  Der Lehrer sammelt die Gesprächs-Beiträge der Schüler auf Overheadfolie oder Flip-chart. So stehen diese auch noch später zur Verfügung. Nach Vortrag und Besprechung des letzten Textes dienen die Aufzeichnungen als Grundlage für eine strukturierend-zusammenfassende Aufbereitung des Themas unter dem programmatischen Aspekt der "Literatur des Überlebens". Erst jetzt machen sich die Schüler entsprechende Notizen. Für den Fall, dass Lesung und Besprechung/ Diskussion bereits die gesamten 2 Unterrichts-Einheiten in Anspruch genommen haben, kann die abschließende Aufbereitung des Themas auch in der nächsten Deutschstunde erfolgen.

  Die didaktischen Ziele bestehen in der Verdeutlichung der thematischen Vielfalt deutschsprachiger Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945, die sich u. a. als angewandte Strategien des Überlebens verstehen lassen, und im Training der Fähigkeit, erfolgte Aussagen sachlich zu begründen.

 

 

B.2. Ronnith Neumanns Texte - die Unmittelbarkeit historisch-kultureller Erfahrung im Rahmen einer (schulischen) Literatur-Lesung

 

Natürlich kann man sich in der exemplarischen Erarbeitung deutschsprachiger Texte jüdischer Autorinnen und Autoren nach 1945 in der oben skizzierten Weise behelfen. Den Effekt einer authentischen Autoren-Lesung kann man so trotzdem kaum erzielen. Denn es ergibt sich ein wesentliches qualitatives Erfahrungs-Defizit. Zum einen fällt nämlich der Faktor der authentischen Begegnung mit dem Autor als Autor weg, zum andern der Faktor, einen Zeitzeugen bzw. einen Vertreter der ersten Folge-Generation zu erleben: Es fehlt schlicht die Unmittelbarkeit historisch-kultureller Erfahrung. Dies gilt im speziellen für Shoa-Texte.

  Offenbar bewirkt jene Unmittelbarkeit der Begegnung nämlich ganz andere Einblicke in die Texte als die "stille" Lektüre durch den Schüler oder der "Ersatz-Vortrag" durch Lehrer oder Schüler. Dieser Schluss lässt sich aus den Erfahrungen ziehen, die die Verfasserin des vorliegenden Beitrages mit zwei Schülergruppen im Alter von 15-16 und 18-19 Jahren im Rahmen zweier Autoren-Lesungen von Ronnith Neumann an der HBLA Kufstein machte.

  Von der Konzeption her folgten beide Lesungen dem Prinzip, zuerst einen "schweren" Shoa-Text vorzutragen, dann, je nach Diskussions-Intensität (nach jedem Text versuchte die Autorin mit ihrem Publikum ins Gespräch zu kommen) und Publikums-Interesse, ein oder zwei aktuelle bzw. phantastische Texte und zum Abschluss einen "leichten" satirisch-humoristischen Text, im konkreten Fall "Die seltsame Geschichte der Maria Fernanda Soarez".

 Es zeigte sich nun, dass insbesondere die Lesung des oben vorgestellten Textes "Nashkach" die jüngere Schülergruppe zu sehr gezielten Fragen das israelische Selbstverständnis, das mosaische Religionsverständnis, aber auch das Selbstverständnis der Autorin vor dem Hintergrund ihrer (freiwilligen) bundesdeutschen Staatsangehörigkeit betreffend motivierte. Speziell auf das Literarisch-Handwerkliche zielende Fragen (Wie sind Sie gerade auf diese Geschichte gekommen? Wie schreiben Sie die Texte? etc.) fehlten hier. Offensichtlich bewirkte die Unmittelbarkeit der Begegnung mit einem Vertreter der ersten Folge-Generation eine entschiedene Dominanz des Thematischen.

  Die übrigen Texte forderten dagegen bei beiden Gruppen sowohl inhaltlich-thematische als auch literarisch-handwerkliche Fragen heraus, mit Ausnahme der "seltsamen Geschichte der Maria Fernanda Soarez". Sie hatte einzig allgemeine Erheiterung zur Folge.

  Der Eindruck, dass die jüngeren Schüler spontaner fragten als die älteren, wurde von der Autorin aus ihrer Erfahrung als Tendenz bestätigt.

 

 

C. Barbara Honigmanns Texte - der Blick auf jüdische Problematiken

 

Unterrichts-Situation 4:

Gemeinsames Projekt der Fächer Deutsch und Religion: "Die Rolle der Frau in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Christentum - Judentum - Islam". Die Dokumentation der Ergebnisse (Präsentation, Poster etc.) ist vorgesehen. 

 

Voraussetzung:

Im Religionsunterricht wurden die drei Buch-Religionen in ihren Grundzügen behandelt. Nun soll der aus den Inhalten der Religionen resultierende Effekt auf die Rolle der Frau in der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft erarbeitet werden. Im Deutsch-Unterricht beschäftigt man sich gerade mit der Literatur des 20. Jahrunderts in Hinblick auf einzelne Phänomene. Man möchte den Bereich "Literatur von Frauen" anhand exemplarischer Lektüre vertiefen.

 

Vorgehensweise:

Nachdem im Religions-Unterricht anhand von entsprechendem (vom Lehrer zur Verfügung gestelltem) Material von den Schülern gemeinsam mit dem Lehrer die Grundzüge der jeweiligen kulturell definierten Frauen-Rollen erarbeitet worden sind, wird das Projekt an den Deutsch-Unterricht "übergeben".

  Diesem kommt es nun zu, exemplarische Literarisierungen der jeweiligen Frauen-Rollen zu analysieren. In diesem Sinne werden zunächst drei Texte ausgewählt, also je einer pro Kultur-Gemeinschaft (z. B.: Marlen Haushofer: Die Wand; Barbara Honigmann: Soharas Reise. Für die muslimische Kultur-Gemeinschaft wird es u. U. notwendig sein, auf einen Übersetzungs-Text zurückzugreifen; z. B.: Malika Oufkir/ Michéle Fitoussi: Die Gefangene. Vom königlichen Palast in dunkle Kerker, ein Frauenschicksal in Marokko).

  Im folgenden ist eine Vorgehensweise wie in Unterrichts-Situation 1 möglich.

  Didaktisches Ziel der Projekt-Arbeit ist neben der Erarbeitung von Inhalten, die sachliche und objektive Darstellung derselben für Dritte.

 

 

D. Rafael Seligmanns Texte - noch einmal der Blick auf jüdische Problematiken

 

Unterrichts-Situation 5:

Gemeinsames Projekt der Fächer Deutsch und Geschichte: "Das europäische Judentum nach 1945. Der deutschsprachige Raum: Abgrenzung, Integration oder Assimilation?"

 

Voraussetzung:

Für das Fach Deutsch wie in Unterrichts-Situation 3. Im Geschichtsunterricht wurde der Zeitraum bis 1945 besprochen. Historisch-Kulturelle Kenntnisse (Geistesströmungen, wichtige historische Daten) bis zum Ende des 2. Weltkrieges können folglich als gegeben betrachtet werden.

 

Vorgehensweise:

Zunächst wurde im Geschichtsunterricht anhand diverser Materialien (Geschichtsbücher, Zeitungs-, Zeitschriften, Magazinartikel, ggf. Autobiographien) die von außen dokumentierte Situation der jüdischen Bevölkerungsgrupp

e im mitteleuropäischen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, nach Ende des Zweiten Weltkrieges erarbeitet.

  Nach der "Übergabe" des Projektes an den Deutschunterricht widmet man sich dort der formulierten Themenstellung unter literarischem Aspekt: Am Beispiel von Rafael Seligmanns "Musterjude" oder am Beispiel seines Textes "Schalom, meine Liebe" wird der Blick von Innen auf die gesellschaftlich-kulturelle Situation analysiert und ggf. dem im Geschichtsunterricht erarbeiteten Blick von außen kontrastiert. Im Fall von "Schalom, meine Liebe" könnte ggf. die Film-Version in Hinblick auf die Präsentation der Projekt-Ergebnisse (entsprechende Film-Ausschnite) miteinbezogen werden.

  Im weiteren kann man grundsätzlich wie in Unterrichts-Situation 2 vorgehen. Es werden dieselben didaktischen Ziele wie dort verfolgt.

 

 

E. Elazar Benyoëtz: "Letzte Morgenstunde der Aufklärung oder Goethes ganz privater Ahasver" - die literarische Möglichkeit zur fächerübergreifenden Vertiefung von Kenntnissen und Fertigkeiten (geeignet für gemeinsame Analyse zur Veranschaulichung literaturgeschichtlicher Ausführungen oder als Grundlage einer Fachbereichsarbeit)

 

Unterrichts-Situation 6:

Wie in Unterrichts-Situation 3 (mit Ausnahme der Autoren-Lesung).

 

Voraussetzung:

Literaturwissenschaftliche Grundkenntnisse wurden vermittelt (Genres, Versmaße) und mehrfach angewandt. Historisch-Kulturelle Kenntnisse (Geistesströmungen, wichtige historische Daten) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts können als gegeben betrachtet werden. Literarhistorische Kenntnisse die Zeit bis 1945 betreffend wurden anhand exemplarischer Lektüre vertieft.

 

Vorgehensweise:

Nach der kurzen erläuternden Ankündigung des neuen Themas ("Literatur des Überlebens: Die Shoa und die deutschsprachige Literatur von jüdischen Autorinnen und Autoren nach 1945") wird den Schülern der Text "Letzte Morgenstunde der Aufklärung oder Goethes ganz privater Ahasver" des Autors Elazar Benyoëtz vorgelegt. Außerdem erhalten sie je zwei identische Arbeitsblätter, die abgesehen von einzelnen Fragestellungen zu Aspekten des Textes (siehe unten) leer sind. Die Arbeitsblätter enthalten einleitend Raum für Notizen zur Biographie des Autors Elazar Benyoëtz.

  Die Bearbeitung des Textes anhand der Fragestellungen ist als Arbeit in Kleingruppen (3-4 Schüler je nach Klassengröße) vorgesehen. Sie wird zum Teil in der Schulbibliothek stattfinden.

  Je nach Arbeitstempo der Schüler wird sich die Arbeit über unterschiedlich viele Unterrichtseinheiten erstrecken. Zwar sollte vor ab ein grundsätzlicher Zeit-Rahmen für die Fertigstellung der Arbeit vereinbart werden (je nach Anzahl und Intensität der Fragestellungen 2 bis max. 3 Unterrichts-Einheiten plus eine Unterrichts-Einheit für Vortrag und Besprechung der Ergebnisse), jedoch sollte dem Arbeitsergebnis der Vorrang vor der Einhaltung des Zeit-Limits eingeräumt werden. Auf eine Auslagerung einzelner Arbeitsschritte in die häusliche Arbeit sollte im Interesse des (auch) angestrebten handwerklichen Übungs-Effektes verzichtet werden. Die Hilfestellung durch den Lehrer beschränkt sich auf Verständnisfragen abseits der Fragestellungen (Was heißt ...?) und technische Hilfen (Wo suche ich, wenn ich ... wissen möchte?).

  Jede Gruppe versucht alle Fragestellungen zu beantworten (Notizen auf einem der Arbeitsblätter). Jede Gruppe trägt aber nur ihre Ergebnisse zu jeweils einer Fragestellung vor. Die übrigen Ergebnisse vergleicht sie mit den Ergebnissen der jeweils referierenden Gruppe. Abweichende Ergebnisse sollen vorgetragen und diskutiert werden, das gemeinsam erreichte Ergebnis soll auf dem noch freien Arbeitsblatt stichwortartig festgehalten werden.

  Zunächst jedoch wird der Text vom Lehrer vorgetragen. Es ist gelegentlich für das inhaltliche Verständnis von Texten hilfreich, wenn man sie hört.

  Der Lehrer erklärt diese Vorgehensweise einleitend, bevor er zu lesen beginnt.

 

Mögliche Fragestellungen: Gemeinsames Arbeiten am Text

 

- Analysieren Sie den Text nach formalen Kriterien: Genre, äußerer Aufbau, Stil (Wortwahl, Syntax etc.), rhetor. Figuren, Tropen, ggf. Metrum, und fassen Sie den Inhalt kurz zusammen.

 

- In welcher Beziehung stehen Form und Inhalt in dem vorliegenden Text? Analysieren Sie den Text schrittweise.

 

- Welche Persönlichkeiten/ Namen werden genannt? In welchen historischen und kulturellen Zusammenhang gehören sie? In welche Beziehung zueinander stellt sie der Text?

 

- Welches Bild der Aufklärung zeichnet der Text? Welche Aspekte/ Persönlichkeiten stellt er diesbezügl. in den Vordergrund? In welchem Verhältnis steht dieses Bild der Aufklärung zu jenem Bild der Aufklärung, das Ihnen im Unterricht vermittelt worden ist?

 

- Wie erklären Sie sich vor diesem Hintergrund den Titel des Textes?

 

- Welche Gesamtaussage des Textes ließe sich eventuell formulieren? Besteht für den Autor ein Zusammenhang zwischen (deutscher) Aufklärung und Shoa? Wenn ja, inwiefern?

 

 

 

Anmerkungen

 

1Vgl. Das Haus im Niemandsland. Interview mit Angelika Schrobsdorff. Jerusalem, 4. September 1996, in: DTV-Magazin, 1/1997, 8-9, hier: 8.

2Vgl. Angelika Schrobsdorff: Die Reise nach Sofia, München 1999; Du bist nicht wie andere Mütter, München 1998; Grandhotel Bulgaria, München 1997; Jericho. Eine Liebesgeschichte, München 1997; Jerusalem war immer eine schwere Adresse, München 1991.

3Hierzu zählen: Angelika Schrobsdorff: Du bist nicht wie andere Mütter; Grandhotel Bulgaria; Jerusalem war immer eine schwere Adresse.

4Vgl. Ronnith Neumann: Heimkehr in die Fremde. Roman, Götingen 1985.

5Vgl. Stefan Brams: "Ich bin ausgewandert worden", in: Neue Westfälische Zeitung, 2.9.1992 (enthalten in der vom Fischerverlag/ Fft. a. M. zusammengestellten Autoren-Pressemappe).

6Vgl. dazu die über den Fischer-Verlag in Frankfurt erhältliche Vita der Autorin.

7Gemeint sind: Ronnith Neumann: Nir Stadt, Fft. a. M. 1991; Die Tür, Fft. a. M. 1992; Ein stürmischer Sonntag, Fft. a. M. 1996.

8Seitenangaben in Reihenfolge der Nennung im Text: aus "Die Tür": 106-111, 120-133; aus: "Ein stürmischer Sonntag": 63-78, 90-98, 103-109, 169-180.

9Zur Barbara Honigmanns Vita vgl. KLG, Bd. 5, "Honigmann, Barbara", 1-4.

10Vgl. Barbara Honigmann: Soharas Reise, Reinbek bei Hamburg 1998; Roman von einem Kinde, Fft. a. M. 1986; Eine Liebe aus nichts, Berlin 1991; Damals, dann und danach, München 1999.

11Rafael Seligmann: Rubinsteins Versteigerung, München 1989; Die jiddische Mamme, München 1990; Der Musterjude, München 1999; Schalom, meine Liebe, München 1998.

12Vgl. Elazar Benyoëtz: Treffpunkt Scheideweg, 161.

13Zu Elazar Benyoëtz' Vita vgl. [Veronika Bernard]: Elazar Benyoëtz, in: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, 2 Bde., München 1997, Bd. 1, 109-111.

14Vgl. Elazar Benyoëtz: Treffpunkt Scheideweg, München, Wien 1990; Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer, München, Wien 1994; Worthaltung, München, Wien 1977; Vielleicht - Vielschwer, München 1981.

15Vgl. Elazar Benyoëtz: "Letzte Morgenstunde der Aufklärung oder: Goethes ganz privater Ahasver", in:  E. B.: Treffpunkt Scheideweg, München, Wien 1990, 145-155.

16Zu Issachar Falkensohn Behr vgl. Lexikon deutschjüdischer Autoren, hg. vom Archiv Bibliographia Judaica, Bd. 6, München 1998, 484-485.

17E. Benyoëtz: Treffpunkt Scheideweg, 141.

 

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